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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Einleitung.
§. 2.

Ein Ton verhält sich gegen den andern wie eine
Seyte gegen die andere.
Wenn von zwey gleichen Sey-
ten die eine um die Hälfte verkürzet, und die ganze Seyte mit
einer dieser Hälften verglichen wird: so findet man, daß die
ganze Seyte einen tiefern Ton, als eine ihrer Hälften von sich
giebet. Wie also jede längere Seyte alle kürzere Seyten in
sich fasset, so kann man sagen, daß jeder tieferer Ton alle hö-
here Töne in sich fasset, aber nicht umgekehrt; und so wie die
Länge und Kürze einer Seyte ausgemessen und in Zahlen dar-
geleget werden kann, so kann es auch die Größe eines Tons.
Geben zwey Seyten einen gleichen Ton, so entstehen Ton-
verhältnisse der Gleichheit,
und sind die Töne ungleich,
so entstehen Tonverhältnisse der Ungleichheit. Man be-
zeichnet die erstern durch den Nahmen von Einklängen, und
die leztern durch den Nahmen von Jntervallen, und be-
schreibt ein Jntervall durch den Unterscheid von einem Ton
zum andern. Wenn man schlechtweg von einem Jntervalle
redet, so verstehet man allezeit ein aufsteigendes, und man
wird darauf Acht haben, daß wir uns bey den aufsteigenden
Jntervallen allezeit der Verhältnisse größrer Ungleichheit, bey
den absteigenden aber der Verhältniße kleinerer Ungleichheit
bedienen werden, wenn nicht Ursachen zum Gegentheile vor-
kommen.

Anmerkung.

Von den Practikern wird der Einklang oder Gleichklang unter
die Jntervalle gerechnet, weil er in gewissen Fällen der Octa-
ve
und diese jenem substituiret werden kann. Theoretisch be-
trachtet machet der Einklang niemals ein Jntervall aus, weil
zwey an Höhe verschiedne Töne zur Hervorbringung eines Jn-
tervalls erfordert werden. Wenn wir also den Einklang eben-
falls in der Folge hin und wieder unter die Jntervalle setzen
werden, so ist dieses allezeit practisch zu verstehen.

§. 3.

Aus dem vorhergehenden erhellet, daß die Töne unsers
Musiksystems durch nichts anders als durch die Theilung einer
klingenden Seyte entwickelt werden können. Bevor wir diese

Thei-
A 2
Einleitung.
§. 2.

Ein Ton verhaͤlt ſich gegen den andern wie eine
Seyte gegen die andere.
Wenn von zwey gleichen Sey-
ten die eine um die Haͤlfte verkuͤrzet, und die ganze Seyte mit
einer dieſer Haͤlften verglichen wird: ſo findet man, daß die
ganze Seyte einen tiefern Ton, als eine ihrer Haͤlften von ſich
giebet. Wie alſo jede laͤngere Seyte alle kuͤrzere Seyten in
ſich faſſet, ſo kann man ſagen, daß jeder tieferer Ton alle hoͤ-
here Toͤne in ſich faſſet, aber nicht umgekehrt; und ſo wie die
Laͤnge und Kuͤrze einer Seyte ausgemeſſen und in Zahlen dar-
geleget werden kann, ſo kann es auch die Groͤße eines Tons.
Geben zwey Seyten einen gleichen Ton, ſo entſtehen Ton-
verhaͤltniſſe der Gleichheit,
und ſind die Toͤne ungleich,
ſo entſtehen Tonverhaͤltniſſe der Ungleichheit. Man be-
zeichnet die erſtern durch den Nahmen von Einklaͤngen, und
die leztern durch den Nahmen von Jntervallen, und be-
ſchreibt ein Jntervall durch den Unterſcheid von einem Ton
zum andern. Wenn man ſchlechtweg von einem Jntervalle
redet, ſo verſtehet man allezeit ein aufſteigendes, und man
wird darauf Acht haben, daß wir uns bey den aufſteigenden
Jntervallen allezeit der Verhaͤltniſſe groͤßrer Ungleichheit, bey
den abſteigenden aber der Verhaͤltniße kleinerer Ungleichheit
bedienen werden, wenn nicht Urſachen zum Gegentheile vor-
kommen.

Anmerkung.

Von den Practikern wird der Einklang oder Gleichklang unter
die Jntervalle gerechnet, weil er in gewiſſen Faͤllen der Octa-
ve
und dieſe jenem ſubſtituiret werden kann. Theoretiſch be-
trachtet machet der Einklang niemals ein Jntervall aus, weil
zwey an Hoͤhe verſchiedne Toͤne zur Hervorbringung eines Jn-
tervalls erfordert werden. Wenn wir alſo den Einklang eben-
falls in der Folge hin und wieder unter die Jntervalle ſetzen
werden, ſo iſt dieſes allezeit practiſch zu verſtehen.

§. 3.

Aus dem vorhergehenden erhellet, daß die Toͤne unſers
Muſikſyſtems durch nichts anders als durch die Theilung einer
klingenden Seyte entwickelt werden koͤnnen. Bevor wir dieſe

Thei-
A 2
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[3/0023] Einleitung. §. 2. Ein Ton verhaͤlt ſich gegen den andern wie eine Seyte gegen die andere. Wenn von zwey gleichen Sey- ten die eine um die Haͤlfte verkuͤrzet, und die ganze Seyte mit einer dieſer Haͤlften verglichen wird: ſo findet man, daß die ganze Seyte einen tiefern Ton, als eine ihrer Haͤlften von ſich giebet. Wie alſo jede laͤngere Seyte alle kuͤrzere Seyten in ſich faſſet, ſo kann man ſagen, daß jeder tieferer Ton alle hoͤ- here Toͤne in ſich faſſet, aber nicht umgekehrt; und ſo wie die Laͤnge und Kuͤrze einer Seyte ausgemeſſen und in Zahlen dar- geleget werden kann, ſo kann es auch die Groͤße eines Tons. Geben zwey Seyten einen gleichen Ton, ſo entſtehen Ton- verhaͤltniſſe der Gleichheit, und ſind die Toͤne ungleich, ſo entſtehen Tonverhaͤltniſſe der Ungleichheit. Man be- zeichnet die erſtern durch den Nahmen von Einklaͤngen, und die leztern durch den Nahmen von Jntervallen, und be- ſchreibt ein Jntervall durch den Unterſcheid von einem Ton zum andern. Wenn man ſchlechtweg von einem Jntervalle redet, ſo verſtehet man allezeit ein aufſteigendes, und man wird darauf Acht haben, daß wir uns bey den aufſteigenden Jntervallen allezeit der Verhaͤltniſſe groͤßrer Ungleichheit, bey den abſteigenden aber der Verhaͤltniße kleinerer Ungleichheit bedienen werden, wenn nicht Urſachen zum Gegentheile vor- kommen. Anmerkung. Von den Practikern wird der Einklang oder Gleichklang unter die Jntervalle gerechnet, weil er in gewiſſen Faͤllen der Octa- ve und dieſe jenem ſubſtituiret werden kann. Theoretiſch be- trachtet machet der Einklang niemals ein Jntervall aus, weil zwey an Hoͤhe verſchiedne Toͤne zur Hervorbringung eines Jn- tervalls erfordert werden. Wenn wir alſo den Einklang eben- falls in der Folge hin und wieder unter die Jntervalle ſetzen werden, ſo iſt dieſes allezeit practiſch zu verſtehen. §. 3. Aus dem vorhergehenden erhellet, daß die Toͤne unſers Muſikſyſtems durch nichts anders als durch die Theilung einer klingenden Seyte entwickelt werden koͤnnen. Bevor wir dieſe Thei- A 2

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/23>, abgerufen am 02.05.2024.