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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der auf den Grundbaß erbaueten Methode etc.
angeführtes großes Genie nicht in der Ausübung seiner Kunst
vortreflich, ja ein Phönix werden könne. Es ist dieses, tau-
send und mehrere Erfahrungen bey Seite gesetzet, eben so mög-
lich, als daß mancher nach dem ordentlichsten System unter-
richteter Schüler der Harmonie sehr wenig Progreßen in sei-
ner Kunst machen wird, wenn er entweder seine Kräfte nicht
zugleich anstrenget, oder wenn er nicht viele Kräfte anzustren-
gen hat. Unterdessen entsteht die Frage: ob, wenn jenes
große Genie nach der erweislich ordentlichsten Methode ange-
führet worden wäre, es nicht in weit kürzerer Zeit dahin ge-
kommen wäre, wo es durch viele Krümmungen hingekommen
ist; ingleichen, ob eine ordentliche Methode nicht vielleicht ge-
schickt ist, das versteckte Talent manches trägen Genies zu ent-
wickeln? -- Jch füge aber in Rücksicht auf einen andern Punkt
hinzu, daß noch nicht ein einziges nach jener philosophischen
Methode aufs vollkommenste ausgearbeitete Lehrbuch von der
Harmonie zur Zeit existiret, und erkläre selbst meine eigene
hierinnen gemachte Versuche für schwache Versuche, und für
die geringsten Anfänge. Jch überlasse es einem jeden, der
Zeit und Kräfte dazu hat, ein vollkommnes und vollständiges
Werk zu liefern.

§. 279.

Welche Methode, die Harmonie vorzutragen, hat den
Vorzug, die, in welcher das leichte vor dem schwerern, das
einfache vor dem zusammengesetzten, und das weniger zusam-
mengesetzte vor dem mehr zusammengesetzten vorhergehet,
oder die, in welcher solches nicht geschicht? Die, in wel-
cher gezeiget wird, wie die Accorde nach und nach, einer
aus dem andern, entstehen, und wo man das ganze Feld der
Harmonie, sowohl das bereits längst urbar gemachte, als das
noch nicht bearbeitete, mit einem Blicke überschauen kann,
oder die, in welcher solches nicht geschicht? Die, in welcher die
Anzahl der Regeln so viel als möglich verkürzet, oder die in
welcher solche ohne Ursach gehäuffet wird? Die auf erweislich
vernünftigen Grundsätzen beruhet, oder die willkührliche, in
welcher man von der Folge und Ordnung der Accorde keine
Ursach anzugeben im Stande ist? Die, woraus man die Be-

handlung
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der auf den Grundbaß erbaueten Methode ꝛc.
angefuͤhrtes großes Genie nicht in der Ausuͤbung ſeiner Kunſt
vortreflich, ja ein Phoͤnix werden koͤnne. Es iſt dieſes, tau-
ſend und mehrere Erfahrungen bey Seite geſetzet, eben ſo moͤg-
lich, als daß mancher nach dem ordentlichſten Syſtem unter-
richteter Schuͤler der Harmonie ſehr wenig Progreßen in ſei-
ner Kunſt machen wird, wenn er entweder ſeine Kraͤfte nicht
zugleich anſtrenget, oder wenn er nicht viele Kraͤfte anzuſtren-
gen hat. Unterdeſſen entſteht die Frage: ob, wenn jenes
große Genie nach der erweislich ordentlichſten Methode ange-
fuͤhret worden waͤre, es nicht in weit kuͤrzerer Zeit dahin ge-
kommen waͤre, wo es durch viele Kruͤmmungen hingekommen
iſt; ingleichen, ob eine ordentliche Methode nicht vielleicht ge-
ſchickt iſt, das verſteckte Talent manches traͤgen Genies zu ent-
wickeln? — Jch fuͤge aber in Ruͤckſicht auf einen andern Punkt
hinzu, daß noch nicht ein einziges nach jener philoſophiſchen
Methode aufs vollkommenſte ausgearbeitete Lehrbuch von der
Harmonie zur Zeit exiſtiret, und erklaͤre ſelbſt meine eigene
hierinnen gemachte Verſuche fuͤr ſchwache Verſuche, und fuͤr
die geringſten Anfaͤnge. Jch uͤberlaſſe es einem jeden, der
Zeit und Kraͤfte dazu hat, ein vollkommnes und vollſtaͤndiges
Werk zu liefern.

§. 279.

Welche Methode, die Harmonie vorzutragen, hat den
Vorzug, die, in welcher das leichte vor dem ſchwerern, das
einfache vor dem zuſammengeſetzten, und das weniger zuſam-
mengeſetzte vor dem mehr zuſammengeſetzten vorhergehet,
oder die, in welcher ſolches nicht geſchicht? Die, in wel-
cher gezeiget wird, wie die Accorde nach und nach, einer
aus dem andern, entſtehen, und wo man das ganze Feld der
Harmonie, ſowohl das bereits laͤngſt urbar gemachte, als das
noch nicht bearbeitete, mit einem Blicke uͤberſchauen kann,
oder die, in welcher ſolches nicht geſchicht? Die, in welcher die
Anzahl der Regeln ſo viel als moͤglich verkuͤrzet, oder die in
welcher ſolche ohne Urſach gehaͤuffet wird? Die auf erweislich
vernuͤnftigen Grundſaͤtzen beruhet, oder die willkuͤhrliche, in
welcher man von der Folge und Ordnung der Accorde keine
Urſach anzugeben im Stande iſt? Die, woraus man die Be-

handlung
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[259/0279] der auf den Grundbaß erbaueten Methode ꝛc. angefuͤhrtes großes Genie nicht in der Ausuͤbung ſeiner Kunſt vortreflich, ja ein Phoͤnix werden koͤnne. Es iſt dieſes, tau- ſend und mehrere Erfahrungen bey Seite geſetzet, eben ſo moͤg- lich, als daß mancher nach dem ordentlichſten Syſtem unter- richteter Schuͤler der Harmonie ſehr wenig Progreßen in ſei- ner Kunſt machen wird, wenn er entweder ſeine Kraͤfte nicht zugleich anſtrenget, oder wenn er nicht viele Kraͤfte anzuſtren- gen hat. Unterdeſſen entſteht die Frage: ob, wenn jenes große Genie nach der erweislich ordentlichſten Methode ange- fuͤhret worden waͤre, es nicht in weit kuͤrzerer Zeit dahin ge- kommen waͤre, wo es durch viele Kruͤmmungen hingekommen iſt; ingleichen, ob eine ordentliche Methode nicht vielleicht ge- ſchickt iſt, das verſteckte Talent manches traͤgen Genies zu ent- wickeln? — Jch fuͤge aber in Ruͤckſicht auf einen andern Punkt hinzu, daß noch nicht ein einziges nach jener philoſophiſchen Methode aufs vollkommenſte ausgearbeitete Lehrbuch von der Harmonie zur Zeit exiſtiret, und erklaͤre ſelbſt meine eigene hierinnen gemachte Verſuche fuͤr ſchwache Verſuche, und fuͤr die geringſten Anfaͤnge. Jch uͤberlaſſe es einem jeden, der Zeit und Kraͤfte dazu hat, ein vollkommnes und vollſtaͤndiges Werk zu liefern. §. 279. Welche Methode, die Harmonie vorzutragen, hat den Vorzug, die, in welcher das leichte vor dem ſchwerern, das einfache vor dem zuſammengeſetzten, und das weniger zuſam- mengeſetzte vor dem mehr zuſammengeſetzten vorhergehet, oder die, in welcher ſolches nicht geſchicht? Die, in wel- cher gezeiget wird, wie die Accorde nach und nach, einer aus dem andern, entſtehen, und wo man das ganze Feld der Harmonie, ſowohl das bereits laͤngſt urbar gemachte, als das noch nicht bearbeitete, mit einem Blicke uͤberſchauen kann, oder die, in welcher ſolches nicht geſchicht? Die, in welcher die Anzahl der Regeln ſo viel als moͤglich verkuͤrzet, oder die in welcher ſolche ohne Urſach gehaͤuffet wird? Die auf erweislich vernuͤnftigen Grundſaͤtzen beruhet, oder die willkuͤhrliche, in welcher man von der Folge und Ordnung der Accorde keine Urſach anzugeben im Stande iſt? Die, woraus man die Be- handlung R 2

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/279>, abgerufen am 22.11.2024.