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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Anhang etc. Siebenter Abschnitt. Anmerkungen
Melodie wegen da sind, und in Ansehung der Harmonie so gut
da als nicht da seyn können, lediglich im Durchgange, regulä-
ren und irregulären, vorkommen, und daß alle dissonirende
Accorde, welche im Generalbaß ausgedrücket werden müssen, und
sowohl der Melodie als Harmonie wegen da sind, wesentlich
oder selbständig sind. So lange nun nicht erwiesen wer-
den kann, daß es mit den zufälligen und wesentlichen Dis-
sonanzen eine andere Beschaffenheit hat, so lange sind die von
dem Hrn. Kirnberger für den Unterscheid seiner dissonirenden
Accorde gewählten Wörter zufällig und wesentlich sehr un-
glücklich gewählet, und schlechterdings falsch. Die Disso-
nanzen, welche er zufällige Dissonanzen nennet, sind alle
so wesentlich,
als die unter der leztern Benennung von ihm
bezeichneten, und was das seltsamste bey der ganzen Sache
ist, so ist gar nicht abzusehen, was derselbe durch diese ver-
kehrte Eintheilung zu bewirken vermeinet. Jn der gesunden
Lehre vom Grundbaß macht jeder Septimenaccord in allen
Fällen eine wesentliche Dissonanz. Allhier macht er bald eine
wesentliche, bald eine zufällige Figur, dieses, wenn er über
demselben Basse resolviret, wie bey Fig. 107. und jenes, wenn
er erst auf der folgenden Baßnote resolviret wird, Fig. 108.
Wird denn etwann die Natur der Septime durch die Fort-
schreitung des Baßtons verändert? Jst sie nicht bey Fig.
108, was sie bey Fig. 107 war? Doch wir werden hievon in
der Folge noch ein mehrers hören. 2) Jch will aus dem Ge-
wirre von Wörtern, womit die sogenannten zufälligen und
wesentlichen Dissonanzen von einander unterschieden werden,
keine andern herausnehmen, als die: "daß die wesentliche
"Septime nicht deßwegen dissoniret, weil sie an die Stelle
"einer Consonanz gesetzet worden, sondern darum, weil sie
"den consonirenden Jntervallen beygefüget worden, da sie denn
"die consonirende Harmonie des Dreyklangs zerstöret, wenig-
"stens sehr unvollkommen macht."

Also dissoniret die Septime nicht an sich, z. E. die Septime
d cn, sondern sie dissoniret nur in d f a cn? Folglich ist das Ver-
hältniß der Septime d cn wohl consonirend? Vermuthlich, so
wie der weiche Dreyklang a c e oder e g h oben aus dissoniren-
den Verhältnissen bestand. Gewiß vom Pythagoras bis auf

den

Anhang ꝛc. Siebenter Abſchnitt. Anmerkungen
Melodie wegen da ſind, und in Anſehung der Harmonie ſo gut
da als nicht da ſeyn koͤnnen, lediglich im Durchgange, regulaͤ-
ren und irregulaͤren, vorkommen, und daß alle diſſonirende
Accorde, welche im Generalbaß ausgedruͤcket werden muͤſſen, und
ſowohl der Melodie als Harmonie wegen da ſind, weſentlich
oder ſelbſtaͤndig ſind. So lange nun nicht erwieſen wer-
den kann, daß es mit den zufaͤlligen und weſentlichen Diſ-
ſonanzen eine andere Beſchaffenheit hat, ſo lange ſind die von
dem Hrn. Kirnberger fuͤr den Unterſcheid ſeiner diſſonirenden
Accorde gewaͤhlten Woͤrter zufaͤllig und weſentlich ſehr un-
gluͤcklich gewaͤhlet, und ſchlechterdings falſch. Die Diſſo-
nanzen, welche er zufaͤllige Diſſonanzen nennet, ſind alle
ſo weſentlich,
als die unter der leztern Benennung von ihm
bezeichneten, und was das ſeltſamſte bey der ganzen Sache
iſt, ſo iſt gar nicht abzuſehen, was derſelbe durch dieſe ver-
kehrte Eintheilung zu bewirken vermeinet. Jn der geſunden
Lehre vom Grundbaß macht jeder Septimenaccord in allen
Faͤllen eine weſentliche Diſſonanz. Allhier macht er bald eine
weſentliche, bald eine zufaͤllige Figur, dieſes, wenn er uͤber
demſelben Baſſe reſolviret, wie bey Fig. 107. und jenes, wenn
er erſt auf der folgenden Baßnote reſolviret wird, Fig. 108.
Wird denn etwann die Natur der Septime durch die Fort-
ſchreitung des Baßtons veraͤndert? Jſt ſie nicht bey Fig.
108, was ſie bey Fig. 107 war? Doch wir werden hievon in
der Folge noch ein mehrers hoͤren. 2) Jch will aus dem Ge-
wirre von Woͤrtern, womit die ſogenannten zufaͤlligen und
weſentlichen Diſſonanzen von einander unterſchieden werden,
keine andern herausnehmen, als die: „daß die weſentliche
„Septime nicht deßwegen diſſoniret, weil ſie an die Stelle
„einer Conſonanz geſetzet worden, ſondern darum, weil ſie
„den conſonirenden Jntervallen beygefuͤget worden, da ſie denn
„die conſonirende Harmonie des Dreyklangs zerſtoͤret, wenig-
„ſtens ſehr unvollkommen macht.“

Alſo diſſoniret die Septime nicht an ſich, z. E. die Septime
d c̄, ſondern ſie diſſoniret nur in d f a c̄? Folglich iſt das Ver-
haͤltniß der Septime d c̄ wohl conſonirend? Vermuthlich, ſo
wie der weiche Dreyklang a c e oder e g h oben aus diſſoniren-
den Verhaͤltniſſen beſtand. Gewiß vom Pythagoras bis auf

den
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[294/0314] Anhang ꝛc. Siebenter Abſchnitt. Anmerkungen Melodie wegen da ſind, und in Anſehung der Harmonie ſo gut da als nicht da ſeyn koͤnnen, lediglich im Durchgange, regulaͤ- ren und irregulaͤren, vorkommen, und daß alle diſſonirende Accorde, welche im Generalbaß ausgedruͤcket werden muͤſſen, und ſowohl der Melodie als Harmonie wegen da ſind, weſentlich oder ſelbſtaͤndig ſind. So lange nun nicht erwieſen wer- den kann, daß es mit den zufaͤlligen und weſentlichen Diſ- ſonanzen eine andere Beſchaffenheit hat, ſo lange ſind die von dem Hrn. Kirnberger fuͤr den Unterſcheid ſeiner diſſonirenden Accorde gewaͤhlten Woͤrter zufaͤllig und weſentlich ſehr un- gluͤcklich gewaͤhlet, und ſchlechterdings falſch. Die Diſſo- nanzen, welche er zufaͤllige Diſſonanzen nennet, ſind alle ſo weſentlich, als die unter der leztern Benennung von ihm bezeichneten, und was das ſeltſamſte bey der ganzen Sache iſt, ſo iſt gar nicht abzuſehen, was derſelbe durch dieſe ver- kehrte Eintheilung zu bewirken vermeinet. Jn der geſunden Lehre vom Grundbaß macht jeder Septimenaccord in allen Faͤllen eine weſentliche Diſſonanz. Allhier macht er bald eine weſentliche, bald eine zufaͤllige Figur, dieſes, wenn er uͤber demſelben Baſſe reſolviret, wie bey Fig. 107. und jenes, wenn er erſt auf der folgenden Baßnote reſolviret wird, Fig. 108. Wird denn etwann die Natur der Septime durch die Fort- ſchreitung des Baßtons veraͤndert? Jſt ſie nicht bey Fig. 108, was ſie bey Fig. 107 war? Doch wir werden hievon in der Folge noch ein mehrers hoͤren. 2) Jch will aus dem Ge- wirre von Woͤrtern, womit die ſogenannten zufaͤlligen und weſentlichen Diſſonanzen von einander unterſchieden werden, keine andern herausnehmen, als die: „daß die weſentliche „Septime nicht deßwegen diſſoniret, weil ſie an die Stelle „einer Conſonanz geſetzet worden, ſondern darum, weil ſie „den conſonirenden Jntervallen beygefuͤget worden, da ſie denn „die conſonirende Harmonie des Dreyklangs zerſtoͤret, wenig- „ſtens ſehr unvollkommen macht.“ Alſo diſſoniret die Septime nicht an ſich, z. E. die Septime d c̄, ſondern ſie diſſoniret nur in d f a c̄? Folglich iſt das Ver- haͤltniß der Septime d c̄ wohl conſonirend? Vermuthlich, ſo wie der weiche Dreyklang a c e oder e g h oben aus diſſoniren- den Verhaͤltniſſen beſtand. Gewiß vom Pythagoras bis auf den

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/314>, abgerufen am 24.11.2024.