§. 119. System der Erhaltung des Gleichgewichts in Europa.
Von jeher sahen Völker eines Erdstrichs die unver- hältnißmäßige Vergrößerung eines unter ihnen mit eifer- süchtigen Augen an. Auch lassen sich mehrere Beyspiele aus der Geschichte älterer Völker anführen, wo einzelne, spät concertirte Versuche gemacht worden, um sich dem Uebergewicht eines schon zu mächtigen Staats und seiner Eroberungssucht zu widersetzen a). Aber keines dieser Völ- ker scheint die Erhaltung eines Gleichgewichts zum herr- schenden System gemacht, oder eine andre Furcht, als die, erobert zu werden, gekannt zu haben. Der unge[he]ure An- wachs der römischen Macht, das seltsame Phenomen der Völkerwanderungen, die ruhige Gleichgültigkeit anderer Staaten bey der Macht Carls des Großen, bey der Er- nennung Heinrichs V. zum Könige von Frankreich, zeugen, daß die europäischen Völker erst später angefangen haben, auf Gefahren der Art mit weit voraussehender Vorsorge zu wachen. So lange stete Befehdungen die innere Ruhe der Staaten trübten, war eine Wachsamkeit der Art weni- ger möglich, und selbst anscheinende Vergrößerung oft minder gefährlich. Als aber im Anfang des 16ten Jahr- hunderts die so sehr angewachsene Macht des Hauses Oesterreich nur kaum noch durch die Macht des an inne- rer Stärke gewachsenen Königreichs Frankreich aufgewogen wurde, und diese zwey hervorragenden Mächte wetteifernd jede nach Universal-Monarchie strebten, da bildete sich in Europa ein System der Erhaltung eines Gleichgewichts, das zwar zunächst eine zwischen diesen beyden Mächten zu erhaltende ungefähre Gleichheit zum Gegenstande hatte, aber bald ausgedehnter, verwickelter, unter oft wandelbarer Form b) sich nie wieder aus den Augen der europäischen Mächte verloren hat; so daß wenn schon in mehr als einem Falle einzelne derselben, durch ihr augenblickliches Interesse verleitet, sich von den Grundsätzen desselben entfernt haben, und vielleicht seit dem 16ten Jahrhundert c) keine Macht
öfter
Erhaltung der Freyheit und Sicherheit.
§. 119. Syſtem der Erhaltung des Gleichgewichts in Europa.
Von jeher ſahen Voͤlker eines Erdſtrichs die unver- haͤltnißmaͤßige Vergroͤßerung eines unter ihnen mit eifer- ſuͤchtigen Augen an. Auch laſſen ſich mehrere Beyſpiele aus der Geſchichte aͤlterer Voͤlker anfuͤhren, wo einzelne, ſpaͤt concertirte Verſuche gemacht worden, um ſich dem Uebergewicht eines ſchon zu maͤchtigen Staats und ſeiner Eroberungsſucht zu widerſetzen a). Aber keines dieſer Voͤl- ker ſcheint die Erhaltung eines Gleichgewichts zum herr- ſchenden Syſtem gemacht, oder eine andre Furcht, als die, erobert zu werden, gekannt zu haben. Der unge[he]ure An- wachs der roͤmiſchen Macht, das ſeltſame Phenomen der Voͤlkerwanderungen, die ruhige Gleichguͤltigkeit anderer Staaten bey der Macht Carls des Großen, bey der Er- nennung Heinrichs V. zum Koͤnige von Frankreich, zeugen, daß die europaͤiſchen Voͤlker erſt ſpaͤter angefangen haben, auf Gefahren der Art mit weit vorausſehender Vorſorge zu wachen. So lange ſtete Befehdungen die innere Ruhe der Staaten truͤbten, war eine Wachſamkeit der Art weni- ger moͤglich, und ſelbſt anſcheinende Vergroͤßerung oft minder gefaͤhrlich. Als aber im Anfang des 16ten Jahr- hunderts die ſo ſehr angewachſene Macht des Hauſes Oeſterreich nur kaum noch durch die Macht des an inne- rer Staͤrke gewachſenen Koͤnigreichs Frankreich aufgewogen wurde, und dieſe zwey hervorragenden Maͤchte wetteifernd jede nach Univerſal-Monarchie ſtrebten, da bildete ſich in Europa ein Syſtem der Erhaltung eines Gleichgewichts, das zwar zunaͤchſt eine zwiſchen dieſen beyden Maͤchten zu erhaltende ungefaͤhre Gleichheit zum Gegenſtande hatte, aber bald ausgedehnter, verwickelter, unter oft wandelbarer Form b) ſich nie wieder aus den Augen der europaͤiſchen Maͤchte verloren hat; ſo daß wenn ſchon in mehr als einem Falle einzelne derſelben, durch ihr augenblickliches Intereſſe verleitet, ſich von den Grundſaͤtzen deſſelben entfernt haben, und vielleicht ſeit dem 16ten Jahrhundert c) keine Macht
oͤfter
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Erhaltung der Freyheit und Sicherheit.
§. 119.
Syſtem der Erhaltung des Gleichgewichts in Europa.
Von jeher ſahen Voͤlker eines Erdſtrichs die unver-
haͤltnißmaͤßige Vergroͤßerung eines unter ihnen mit eifer-
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aus der Geſchichte aͤlterer Voͤlker anfuͤhren, wo einzelne,
ſpaͤt concertirte Verſuche gemacht worden, um ſich dem
Uebergewicht eines ſchon zu maͤchtigen Staats und ſeiner
Eroberungsſucht zu widerſetzen a). Aber keines dieſer Voͤl-
ker ſcheint die Erhaltung eines Gleichgewichts zum herr-
ſchenden Syſtem gemacht, oder eine andre Furcht, als die,
erobert zu werden, gekannt zu haben. Der ungeheure An-
wachs der roͤmiſchen Macht, das ſeltſame Phenomen der
Voͤlkerwanderungen, die ruhige Gleichguͤltigkeit anderer
Staaten bey der Macht Carls des Großen, bey der Er-
nennung Heinrichs V. zum Koͤnige von Frankreich, zeugen,
daß die europaͤiſchen Voͤlker erſt ſpaͤter angefangen haben,
auf Gefahren der Art mit weit vorausſehender Vorſorge
zu wachen. So lange ſtete Befehdungen die innere Ruhe
der Staaten truͤbten, war eine Wachſamkeit der Art weni-
ger moͤglich, und ſelbſt anſcheinende Vergroͤßerung oft
minder gefaͤhrlich. Als aber im Anfang des 16ten Jahr-
hunderts die ſo ſehr angewachſene Macht des Hauſes
Oeſterreich nur kaum noch durch die Macht des an inne-
rer Staͤrke gewachſenen Koͤnigreichs Frankreich aufgewogen
wurde, und dieſe zwey hervorragenden Maͤchte wetteifernd
jede nach Univerſal-Monarchie ſtrebten, da bildete ſich in
Europa ein Syſtem der Erhaltung eines Gleichgewichts,
das zwar zunaͤchſt eine zwiſchen dieſen beyden Maͤchten zu
erhaltende ungefaͤhre Gleichheit zum Gegenſtande hatte,
aber bald ausgedehnter, verwickelter, unter oft wandelbarer
Form b) ſich nie wieder aus den Augen der europaͤiſchen
Maͤchte verloren hat; ſo daß wenn ſchon in mehr als einem
Falle einzelne derſelben, durch ihr augenblickliches Intereſſe
verleitet, ſich von den Grundſaͤtzen deſſelben entfernt haben,
und vielleicht ſeit dem 16ten Jahrhundert c) keine Macht
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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/171>, abgerufen am 04.12.2024.
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