Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch. Erstes Hauptstück.
allen Ueberwundenen das Römische Bürgerrecht ertheilte a),
durch Gleichförmigkeit der Gesetze, aber mehr noch durch
die christliche Religion befestiget, zu der die mehresten der
überwundenen Völker sich bekannten. Zwar löste sich dies
Band mit dem Sturz des occidentalischen Kaiserthums wie-
der auf, aber zum zweytenmahl knüpfte Rom dasselbe dauer-
hafter an, seit dessen Bischof sich zum geistlichen Oberhaupt
der ganzen, unzertrennlich über alle christliche Staaten er-
streckten Kirchen-Gesellschaft erhob, und an seiner Seite
den von ihm hervorgerufnen Römischen Kaiser als das welt-
liche Oberhaupt der christlichen Kirche geltend zu machen
wuste. Jetzt glich Europa in mancher Rücksicht einer großen
ungleichen Staatengesellschaft, die dem Pabst im Geistlichen
unterworfen, dem Kaiser untergeordnet wäre.

Zwar ward auch dieses Verhältniß sehr verändert, als
mit der Reformation eine beträchtliche Zahl Staaten sich
von der Römischen Kirche trennte, und das Sinken des
Ansehns des Pabsts, auf das des Kaisers zurückwirkte; Kö-
nige nun in dem geglaubten Nachfolger des Oberherrn der
Welt, nur ihres Gleichen erblickten.

Doch schon hatte gegenseitiges Interesse, geläuterte
Staats- und Handelspolitik, Aehnlichkeit der Sitten, Bluts-
verwandschaft unter den Fürsten, der einzelnen Verbindungs-
Fäden so viele angesponnen, daß selbst die Theilung welche
blutige Religionskriege eine zeitlang veranlaßten, weder alle
diese Bande zerreissen, noch das Anknüpfen neuer, von der
Religions-Verschiedenheit unabhängiger, Verbindungen
hemmen konnten. Und diese zahllosen Verbindungen eines
jeden dieser Staaten mit den mehresten der übrigen, diese
Aehnlichkeit der Sitten, des Interesse, sind es, um deren
willen das christliche Europa nicht bloß in geographischer,
sondern in politischer und rechtlicher Rücksicht, als ein von
den übrigen Völkern des Erdbodens unterschiedenes Ganze,
gleichsam als ein aus Staaten zusammengesetztes Volk, das
seine ihm eigene Gesetze, Gebräuche, Grundsätze hat, zu

betrachten

Erſtes Buch. Erſtes Hauptſtuͤck.
allen Ueberwundenen das Roͤmiſche Buͤrgerrecht ertheilte a),
durch Gleichfoͤrmigkeit der Geſetze, aber mehr noch durch
die chriſtliche Religion befeſtiget, zu der die mehreſten der
uͤberwundenen Voͤlker ſich bekannten. Zwar loͤſte ſich dies
Band mit dem Sturz des occidentaliſchen Kaiſerthums wie-
der auf, aber zum zweytenmahl knuͤpfte Rom daſſelbe dauer-
hafter an, ſeit deſſen Biſchof ſich zum geiſtlichen Oberhaupt
der ganzen, unzertrennlich uͤber alle chriſtliche Staaten er-
ſtreckten Kirchen-Geſellſchaft erhob, und an ſeiner Seite
den von ihm hervorgerufnen Roͤmiſchen Kaiſer als das welt-
liche Oberhaupt der chriſtlichen Kirche geltend zu machen
wuſte. Jetzt glich Europa in mancher Ruͤckſicht einer großen
ungleichen Staatengeſellſchaft, die dem Pabſt im Geiſtlichen
unterworfen, dem Kaiſer untergeordnet waͤre.

Zwar ward auch dieſes Verhaͤltniß ſehr veraͤndert, als
mit der Reformation eine betraͤchtliche Zahl Staaten ſich
von der Roͤmiſchen Kirche trennte, und das Sinken des
Anſehns des Pabſts, auf das des Kaiſers zuruͤckwirkte; Koͤ-
nige nun in dem geglaubten Nachfolger des Oberherrn der
Welt, nur ihres Gleichen erblickten.

Doch ſchon hatte gegenſeitiges Intereſſe, gelaͤuterte
Staats- und Handelspolitik, Aehnlichkeit der Sitten, Bluts-
verwandſchaft unter den Fuͤrſten, der einzelnen Verbindungs-
Faͤden ſo viele angeſponnen, daß ſelbſt die Theilung welche
blutige Religionskriege eine zeitlang veranlaßten, weder alle
dieſe Bande zerreiſſen, noch das Anknuͤpfen neuer, von der
Religions-Verſchiedenheit unabhaͤngiger, Verbindungen
hemmen konnten. Und dieſe zahlloſen Verbindungen eines
jeden dieſer Staaten mit den mehreſten der uͤbrigen, dieſe
Aehnlichkeit der Sitten, des Intereſſe, ſind es, um deren
willen das chriſtliche Europa nicht bloß in geographiſcher,
ſondern in politiſcher und rechtlicher Ruͤckſicht, als ein von
den uͤbrigen Voͤlkern des Erdbodens unterſchiedenes Ganze,
gleichſam als ein aus Staaten zuſammengeſetztes Volk, das
ſeine ihm eigene Geſetze, Gebraͤuche, Grundſaͤtze hat, zu

betrachten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0054" n="26"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch. Er&#x017F;tes Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</fw><lb/>
allen Ueberwundenen das Ro&#x0364;mi&#x017F;che Bu&#x0364;rgerrecht ertheilte <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">a</hi></hi>),<lb/>
durch Gleichfo&#x0364;rmigkeit der Ge&#x017F;etze, aber mehr noch durch<lb/>
die chri&#x017F;tliche Religion befe&#x017F;tiget, zu der die mehre&#x017F;ten der<lb/>
u&#x0364;berwundenen Vo&#x0364;lker &#x017F;ich bekannten. Zwar lo&#x0364;&#x017F;te &#x017F;ich dies<lb/>
Band mit dem Sturz des occidentali&#x017F;chen Kai&#x017F;erthums wie-<lb/>
der auf, aber zum zweytenmahl knu&#x0364;pfte Rom da&#x017F;&#x017F;elbe dauer-<lb/>
hafter an, &#x017F;eit de&#x017F;&#x017F;en Bi&#x017F;chof &#x017F;ich zum gei&#x017F;tlichen Oberhaupt<lb/>
der ganzen, unzertrennlich u&#x0364;ber alle chri&#x017F;tliche Staaten er-<lb/>
&#x017F;treckten Kirchen-Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft erhob, und an &#x017F;einer Seite<lb/>
den von ihm hervorgerufnen Ro&#x0364;mi&#x017F;chen Kai&#x017F;er als das welt-<lb/>
liche Oberhaupt der chri&#x017F;tlichen Kirche geltend zu machen<lb/>
wu&#x017F;te. Jetzt glich Europa in mancher Ru&#x0364;ck&#x017F;icht einer großen<lb/>
ungleichen Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft, die dem Pab&#x017F;t im Gei&#x017F;tlichen<lb/>
unterworfen, dem Kai&#x017F;er untergeordnet wa&#x0364;re.</p><lb/>
            <p>Zwar ward auch die&#x017F;es Verha&#x0364;ltniß &#x017F;ehr vera&#x0364;ndert, als<lb/>
mit der Reformation eine betra&#x0364;chtliche Zahl Staaten &#x017F;ich<lb/>
von der Ro&#x0364;mi&#x017F;chen Kirche trennte, und das Sinken des<lb/>
An&#x017F;ehns des Pab&#x017F;ts, auf das des Kai&#x017F;ers zuru&#x0364;ckwirkte; Ko&#x0364;-<lb/>
nige nun in dem geglaubten Nachfolger des Oberherrn der<lb/>
Welt, nur ihres Gleichen erblickten.</p><lb/>
            <p>Doch &#x017F;chon hatte gegen&#x017F;eitiges Intere&#x017F;&#x017F;e, gela&#x0364;uterte<lb/>
Staats- und Handelspolitik, Aehnlichkeit der Sitten, Bluts-<lb/>
verwand&#x017F;chaft unter den Fu&#x0364;r&#x017F;ten, der einzelnen Verbindungs-<lb/>
Fa&#x0364;den &#x017F;o viele ange&#x017F;ponnen, daß &#x017F;elb&#x017F;t die Theilung welche<lb/>
blutige Religionskriege eine zeitlang veranlaßten, weder alle<lb/>
die&#x017F;e Bande zerrei&#x017F;&#x017F;en, noch das Anknu&#x0364;pfen neuer, von der<lb/>
Religions-Ver&#x017F;chiedenheit unabha&#x0364;ngiger, Verbindungen<lb/>
hemmen konnten. Und die&#x017F;e zahllo&#x017F;en Verbindungen eines<lb/>
jeden die&#x017F;er Staaten mit den mehre&#x017F;ten der u&#x0364;brigen, die&#x017F;e<lb/>
Aehnlichkeit der Sitten, des Intere&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ind es, um deren<lb/>
willen das chri&#x017F;tliche Europa nicht bloß in geographi&#x017F;cher,<lb/>
&#x017F;ondern in politi&#x017F;cher und rechtlicher Ru&#x0364;ck&#x017F;icht, als ein von<lb/>
den u&#x0364;brigen Vo&#x0364;lkern des Erdbodens unter&#x017F;chiedenes Ganze,<lb/>
gleich&#x017F;am als ein aus Staaten zu&#x017F;ammenge&#x017F;etztes Volk, das<lb/>
&#x017F;eine ihm eigene Ge&#x017F;etze, Gebra&#x0364;uche, Grund&#x017F;a&#x0364;tze hat, zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">betrachten</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0054] Erſtes Buch. Erſtes Hauptſtuͤck. allen Ueberwundenen das Roͤmiſche Buͤrgerrecht ertheilte a), durch Gleichfoͤrmigkeit der Geſetze, aber mehr noch durch die chriſtliche Religion befeſtiget, zu der die mehreſten der uͤberwundenen Voͤlker ſich bekannten. Zwar loͤſte ſich dies Band mit dem Sturz des occidentaliſchen Kaiſerthums wie- der auf, aber zum zweytenmahl knuͤpfte Rom daſſelbe dauer- hafter an, ſeit deſſen Biſchof ſich zum geiſtlichen Oberhaupt der ganzen, unzertrennlich uͤber alle chriſtliche Staaten er- ſtreckten Kirchen-Geſellſchaft erhob, und an ſeiner Seite den von ihm hervorgerufnen Roͤmiſchen Kaiſer als das welt- liche Oberhaupt der chriſtlichen Kirche geltend zu machen wuſte. Jetzt glich Europa in mancher Ruͤckſicht einer großen ungleichen Staatengeſellſchaft, die dem Pabſt im Geiſtlichen unterworfen, dem Kaiſer untergeordnet waͤre. Zwar ward auch dieſes Verhaͤltniß ſehr veraͤndert, als mit der Reformation eine betraͤchtliche Zahl Staaten ſich von der Roͤmiſchen Kirche trennte, und das Sinken des Anſehns des Pabſts, auf das des Kaiſers zuruͤckwirkte; Koͤ- nige nun in dem geglaubten Nachfolger des Oberherrn der Welt, nur ihres Gleichen erblickten. Doch ſchon hatte gegenſeitiges Intereſſe, gelaͤuterte Staats- und Handelspolitik, Aehnlichkeit der Sitten, Bluts- verwandſchaft unter den Fuͤrſten, der einzelnen Verbindungs- Faͤden ſo viele angeſponnen, daß ſelbſt die Theilung welche blutige Religionskriege eine zeitlang veranlaßten, weder alle dieſe Bande zerreiſſen, noch das Anknuͤpfen neuer, von der Religions-Verſchiedenheit unabhaͤngiger, Verbindungen hemmen konnten. Und dieſe zahlloſen Verbindungen eines jeden dieſer Staaten mit den mehreſten der uͤbrigen, dieſe Aehnlichkeit der Sitten, des Intereſſe, ſind es, um deren willen das chriſtliche Europa nicht bloß in geographiſcher, ſondern in politiſcher und rechtlicher Ruͤckſicht, als ein von den uͤbrigen Voͤlkern des Erdbodens unterſchiedenes Ganze, gleichſam als ein aus Staaten zuſammengeſetztes Volk, das ſeine ihm eigene Geſetze, Gebraͤuche, Grundſaͤtze hat, zu betrachten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/54
Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/54>, abgerufen am 04.12.2024.