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Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21.

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Einmal ist es einfach der Schlüssel zu einer Reihe von
Berufen, die wir aus äußern und innern Gründen für uns
Frauen erstreben. Wer die will, muß auch das Studium
wollen, das volle akademische, soll der Beruf in Frauenhand
nicht doch auf den zweiten Rang hinuntergedrückt werden.
Es wäre für unsere Frauenberufe direkt verhängnisvoll,
ließen wir uns mit der Vorbereitung dazu, dem Studium,
in eine minderwertige Seitenbahn locken; das sehen wir
an dem heftigen Kampf um das Berechtigungswesen für
die Männerberufe. Aber für die Frauen müssen wir viel
strenger, als das die Männer thun und zu thun brauchen,
fordern, daß dem praktischen Zwecke der ideale sich ge-
selle. Wen es nicht drängt und treibt, wissenschaftliche Bil-
dung um ihrer selbst willen zu erreichen, der lasse die
Hand davon; er wird der Sache des Frauenstudiums keine
Ehre machen. Das "Mehr", das die akademische Bildung
giebt, ist klar ersichtlich. Unsere bisherige Schul-, Semi-
nar- oder Fachbildung war "Lernen", um zu wissen; die
wissenschaftliche Bildung setzt "Lernen" voraus und be-
nutzt das "Wissen", um "Erkennen" zu lehren. ."Sie geht
darauf aus, den ewigen Zusammenbang des menschlichen
Seins und Werdens, Denkens und Handelns zu ergründen,
sich verstehen zu lernen als kleines Glied einer unendlichen
Kette von Gedanken und Erscheinungen. Die Gegenwart
aus der Vergangenheit verstehen zu lernen, das ist wis-
senschaftliche Arbeit,", sagt ein bekannter Gelehrter. Natür-
lich ist diese Definition cum grano salis zu nehmen. Denn
mancher kommt trotz Studium kaum zum soliden Lernen;
dagegen wird ein lebhafter Geist alles Wissen zum Erkennen
verbrauchen, auch wenn er nie eine Universität sah. Aber
deshalb bleibt doch der Unterschied: das System unserer
bisherigen Bildung verlangt das Annehmen gesammelten
Wissensstoffes auf Autorität hin; das System der aka-
demischen Arbeit ist Prüfen und Vermehren dieses Wis-
sens durch freie, selbstthätige, zerlegende und aufbauende
Arbeit.

Es könnte unbescheiden klingen, wenn ich von meinem
Studium spreche, dem doch so manche Voraussetzung fehlte.
Aber ich muß freudig bekennen, daß es mir für Geist

Einmal ist es einfach der Schlüssel zu einer Reihe von
Berufen, die wir aus äußern und innern Gründen für uns
Frauen erstreben. Wer die will, muß auch das Studium
wollen, das volle akademische, soll der Beruf in Frauenhand
nicht doch auf den zweiten Rang hinuntergedrückt werden.
Es wäre für unsere Frauenberufe direkt verhängnisvoll,
ließen wir uns mit der Vorbereitung dazu, dem Studium,
in eine minderwertige Seitenbahn locken; das sehen wir
an dem heftigen Kampf um das Berechtigungswesen für
die Männerberufe. Aber für die Frauen müssen wir viel
strenger, als das die Männer thun und zu thun brauchen,
fordern, daß dem praktischen Zwecke der ideale sich ge-
selle. Wen es nicht drängt und treibt, wissenschaftliche Bil-
dung um ihrer selbst willen zu erreichen, der lasse die
Hand davon; er wird der Sache des Frauenstudiums keine
Ehre machen. Das „Mehr“, das die akademische Bildung
giebt, ist klar ersichtlich. Unsere bisherige Schul-, Semi-
nar- oder Fachbildung war „Lernen“, um zu wissen; die
wissenschaftliche Bildung setzt „Lernen“ voraus und be-
nutzt das „Wissen“, um „Erkennen“ zu lehren. .„Sie geht
darauf aus, den ewigen Zusammenbang des menschlichen
Seins und Werdens, Denkens und Handelns zu ergründen,
sich verstehen zu lernen als kleines Glied einer unendlichen
Kette von Gedanken und Erscheinungen. Die Gegenwart
aus der Vergangenheit verstehen zu lernen, das ist wis-
senschaftliche Arbeit,“, sagt ein bekannter Gelehrter. Natür-
lich ist diese Definition cum grano salis zu nehmen. Denn
mancher kommt trotz Studium kaum zum soliden Lernen;
dagegen wird ein lebhafter Geist alles Wissen zum Erkennen
verbrauchen, auch wenn er nie eine Universität sah. Aber
deshalb bleibt doch der Unterschied: das System unserer
bisherigen Bildung verlangt das Annehmen gesammelten
Wissensstoffes auf Autorität hin; das System der aka-
demischen Arbeit ist Prüfen und Vermehren dieses Wis-
sens durch freie, selbstthätige, zerlegende und aufbauende
Arbeit.

Es könnte unbescheiden klingen, wenn ich von meinem
Studium spreche, dem doch so manche Voraussetzung fehlte.
Aber ich muß freudig bekennen, daß es mir für Geist

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[10/0010] Einmal ist es einfach der Schlüssel zu einer Reihe von Berufen, die wir aus äußern und innern Gründen für uns Frauen erstreben. Wer die will, muß auch das Studium wollen, das volle akademische, soll der Beruf in Frauenhand nicht doch auf den zweiten Rang hinuntergedrückt werden. Es wäre für unsere Frauenberufe direkt verhängnisvoll, ließen wir uns mit der Vorbereitung dazu, dem Studium, in eine minderwertige Seitenbahn locken; das sehen wir an dem heftigen Kampf um das Berechtigungswesen für die Männerberufe. Aber für die Frauen müssen wir viel strenger, als das die Männer thun und zu thun brauchen, fordern, daß dem praktischen Zwecke der ideale sich ge- selle. Wen es nicht drängt und treibt, wissenschaftliche Bil- dung um ihrer selbst willen zu erreichen, der lasse die Hand davon; er wird der Sache des Frauenstudiums keine Ehre machen. Das „Mehr“, das die akademische Bildung giebt, ist klar ersichtlich. Unsere bisherige Schul-, Semi- nar- oder Fachbildung war „Lernen“, um zu wissen; die wissenschaftliche Bildung setzt „Lernen“ voraus und be- nutzt das „Wissen“, um „Erkennen“ zu lehren. .„Sie geht darauf aus, den ewigen Zusammenbang des menschlichen Seins und Werdens, Denkens und Handelns zu ergründen, sich verstehen zu lernen als kleines Glied einer unendlichen Kette von Gedanken und Erscheinungen. Die Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen zu lernen, das ist wis- senschaftliche Arbeit,“, sagt ein bekannter Gelehrter. Natür- lich ist diese Definition cum grano salis zu nehmen. Denn mancher kommt trotz Studium kaum zum soliden Lernen; dagegen wird ein lebhafter Geist alles Wissen zum Erkennen verbrauchen, auch wenn er nie eine Universität sah. Aber deshalb bleibt doch der Unterschied: das System unserer bisherigen Bildung verlangt das Annehmen gesammelten Wissensstoffes auf Autorität hin; das System der aka- demischen Arbeit ist Prüfen und Vermehren dieses Wis- sens durch freie, selbstthätige, zerlegende und aufbauende Arbeit. Es könnte unbescheiden klingen, wenn ich von meinem Studium spreche, dem doch so manche Voraussetzung fehlte. Aber ich muß freudig bekennen, daß es mir für Geist  

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901/10>, abgerufen am 23.04.2024.