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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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greifen, so werden sie den Segen zurückgeben und die Men-
schen lehren, sich als "Knechte aller Dinge und jedermann
untertan" zu fühlen, und das ist doch die einzige Art, wie die
Volksfreiheit gesunden kann.

Man könnte argwöhnend mir den Vorwurf machen, als
wolle ich die Geisteskräfte des Christentums durch die Frauen-
naturkräfte ersetzen. Nichts liegt mir ferner. Meine heiligste
Ueberzeugung ist, daß im tiefsten Grunde eben die Lebens-
kräfte wahren Herzenschristentums unsre einzige Rettung sind,
und daß unser Volk nur soweit gesund werden kann, als ihm
eine religiöse Erneuerung gelingt. Soweit Menschen die
herbeiführen können, hat sich aber Gott stets unverbrauch-
ter
frischer Kräfte als Werkzeuge bedient. Zur Zeit unsrer
großen Reformation lag die Sehnsucht nach Befreiung und re-
ligiöser Erneuerung ebenso in der Luft wie heute. Aber trotz
aller Ansätze konnten keine Vertreter der alten Bildung, keine
Humanisten, kein Erasmus von Rotterdam, kein Reuchlin und
Melanchthon und ebenso wenig ein Hutten helfen. Sondern
aus dem frischen Volksboden, mit dem ganzen Erdgeruch des
Bauerntums noch ungebrochen umgeben, mußte ein Luther
aufsteigen mit seiner ursprünglichen Kraft. Ihm wurde das
erlösende Wort gegeben. Heute liegt die Sache etwas anders,
wie niemals eine Entwickelung ganz genau so wiederkehrt.
Mußten damals erst einmal die Ketten falscher Glaubens-
formeln
und Lehren gesprengt werden, so bedarf es heute
einer Erneuerung der inneren, trocken gewordenen Glaubens-
möglichkeit;
es bedarf nicht des Säens, sondern des stillen
Quellens und Keimens. Ist das nicht Frauenaufgabe? Eine
Reformation des religiösen Lebens muß und wird diesmal,
wenn sie überhaupt kommt, von der deutschen Frau aus-
gehen. Wenn ihr Wesen, ihr Fühlen, die Triebkräfte der
weiblichen Seelen soweit zum Bewußtsein erzogen sind,
daß sie feste Richtung nehmen können, dann, und nicht eher,
wird der neue Frühling ins Land kommen, und der Pfingst-

greifen, so werden sie den Segen zurückgeben und die Men-
schen lehren, sich als „Knechte aller Dinge und jedermann
untertan“ zu fühlen, und das ist doch die einzige Art, wie die
Volksfreiheit gesunden kann.

Man könnte argwöhnend mir den Vorwurf machen, als
wolle ich die Geisteskräfte des Christentums durch die Frauen-
naturkräfte ersetzen. Nichts liegt mir ferner. Meine heiligste
Ueberzeugung ist, daß im tiefsten Grunde eben die Lebens-
kräfte wahren Herzenschristentums unsre einzige Rettung sind,
und daß unser Volk nur soweit gesund werden kann, als ihm
eine religiöse Erneuerung gelingt. Soweit Menschen die
herbeiführen können, hat sich aber Gott stets unverbrauch-
ter
frischer Kräfte als Werkzeuge bedient. Zur Zeit unsrer
großen Reformation lag die Sehnsucht nach Befreiung und re-
ligiöser Erneuerung ebenso in der Luft wie heute. Aber trotz
aller Ansätze konnten keine Vertreter der alten Bildung, keine
Humanisten, kein Erasmus von Rotterdam, kein Reuchlin und
Melanchthon und ebenso wenig ein Hutten helfen. Sondern
aus dem frischen Volksboden, mit dem ganzen Erdgeruch des
Bauerntums noch ungebrochen umgeben, mußte ein Luther
aufsteigen mit seiner ursprünglichen Kraft. Ihm wurde das
erlösende Wort gegeben. Heute liegt die Sache etwas anders,
wie niemals eine Entwickelung ganz genau so wiederkehrt.
Mußten damals erst einmal die Ketten falscher Glaubens-
formeln
und Lehren gesprengt werden, so bedarf es heute
einer Erneuerung der inneren, trocken gewordenen Glaubens-
möglichkeit;
es bedarf nicht des Säens, sondern des stillen
Quellens und Keimens. Ist das nicht Frauenaufgabe? Eine
Reformation des religiösen Lebens muß und wird diesmal,
wenn sie überhaupt kommt, von der deutschen Frau aus-
gehen. Wenn ihr Wesen, ihr Fühlen, die Triebkräfte der
weiblichen Seelen soweit zum Bewußtsein erzogen sind,
daß sie feste Richtung nehmen können, dann, und nicht eher,
wird der neue Frühling ins Land kommen, und der Pfingst-

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[33/0036] greifen, so werden sie den Segen zurückgeben und die Men- schen lehren, sich als „Knechte aller Dinge und jedermann untertan“ zu fühlen, und das ist doch die einzige Art, wie die Volksfreiheit gesunden kann. Man könnte argwöhnend mir den Vorwurf machen, als wolle ich die Geisteskräfte des Christentums durch die Frauen- naturkräfte ersetzen. Nichts liegt mir ferner. Meine heiligste Ueberzeugung ist, daß im tiefsten Grunde eben die Lebens- kräfte wahren Herzenschristentums unsre einzige Rettung sind, und daß unser Volk nur soweit gesund werden kann, als ihm eine religiöse Erneuerung gelingt. Soweit Menschen die herbeiführen können, hat sich aber Gott stets unverbrauch- ter frischer Kräfte als Werkzeuge bedient. Zur Zeit unsrer großen Reformation lag die Sehnsucht nach Befreiung und re- ligiöser Erneuerung ebenso in der Luft wie heute. Aber trotz aller Ansätze konnten keine Vertreter der alten Bildung, keine Humanisten, kein Erasmus von Rotterdam, kein Reuchlin und Melanchthon und ebenso wenig ein Hutten helfen. Sondern aus dem frischen Volksboden, mit dem ganzen Erdgeruch des Bauerntums noch ungebrochen umgeben, mußte ein Luther aufsteigen mit seiner ursprünglichen Kraft. Ihm wurde das erlösende Wort gegeben. Heute liegt die Sache etwas anders, wie niemals eine Entwickelung ganz genau so wiederkehrt. Mußten damals erst einmal die Ketten falscher Glaubens- formeln und Lehren gesprengt werden, so bedarf es heute einer Erneuerung der inneren, trocken gewordenen Glaubens- möglichkeit; es bedarf nicht des Säens, sondern des stillen Quellens und Keimens. Ist das nicht Frauenaufgabe? Eine Reformation des religiösen Lebens muß und wird diesmal, wenn sie überhaupt kommt, von der deutschen Frau aus- gehen. Wenn ihr Wesen, ihr Fühlen, die Triebkräfte der weiblichen Seelen soweit zum Bewußtsein erzogen sind, daß sie feste Richtung nehmen können, dann, und nicht eher, wird der neue Frühling ins Land kommen, und der Pfingst-

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/36>, abgerufen am 19.04.2024.