parlamentarischen Schranken zu bewegen. Und es gehörte jene eigenthümliche Krankheit dazu, die seit 1848 auf dem ganzen Kontinent grassirt hat, der parlamentarische Kretinismus, der die Angesteckten in eine einge¬ bildete Welt festbannt und ihnen allen Sinn, alle Erinnerung, alles Ver¬ ständniß für die rauhe Außenwelt raubt, dieser parlamentarische Kretinismus gehörte dazu, wenn sie, die alle Bedingungen der parlamentarischen Macht mit eignen Händen zerstört hatten und in ihrem Kampfe mit den andern Klassen zerstören mußten, ihre parlamentarischen Siege noch für Siege hielten und den Präsidenten zu treffen glaubten, indem sie auf seine Minister schlugen. Sie gaben ihm nur Gelegenheit, die Nationalversammlung von Neuem in den Augen der Nation zu demüthigen. Am 20. Januar meldete der Moni¬ teur, daß die Entlassung des Gesammtministeriums angenommen sei. Unter dem Vorwande, daß keine parlamentarische Partei mehr die Majorität besitze, wie das Votum vom 18. Januar, diese Frucht der Koalition zwischen Mon¬ tagne und Royalisten beweise, und um die Neubildung einer Majorität abzu¬ warten, ernannte Bonaparte ein sogenanntes Uebergangsministerium, wovon kein Mitglied dem Parlamente angehörte, lauter durchaus unbekannte und bedeutungslose Individuen, ein Ministerium von bloßen Kommis und Schrei¬ bern. Die Ordnungspartei konnte sich jetzt im Spiele mit diesen Marionetten abarbeiten, die Exekutivgewalt hielt es nicht mehr der Mühe werth, ernsthaft in der Nationalversammlung vertreten zu sein. Bonaparte konzentrirte um so sichtbarer die ganze Exekutivgewalt in seiner Person, er hatte um so freiern Spielraum, sie zu seinen Zwecken auszubeuten, je mehr seine Minister reine Statisten waren.
Die mit der Montagne koalisirte Ordnungspartei rächte sich, indem sie die präsidentielle Dotation von 1,800,000 Frcs. verwarf, zu deren Vorlage das Haupt der Gesellschaft vom 10. Dezember seine ministeriellen Kommis gezwungen hatte. Diesmal entschied eine Majorität von nur 102 Stimmen, es waren also seit dem 18. Januar neuerdings 27 Stimmen abgefallen, die Auflösung der Ordnungspartei ging voran. Damit man sich keinen Augen¬ blick über den Sinn ihrer Koalition mit der Montagne täusche, verschmähte sie gleichzeitig einen von 189 Mitgliedern der Montagne unterzeichneten An¬ trag auf allgemeine Amnestie der politischen Verbrecher auch nur in Betracht zu ziehen. Es genügte, daß der Minister des Innern, ein gewisser Baisse, erklärte, die Ruhe sei nur scheinbar, im Geheimen herrsche große Agitation, im Geheimen organisirten sich allgegenwärtige Gesellschaften, die demokratischen
parlamentariſchen Schranken zu bewegen. Und es gehörte jene eigenthümliche Krankheit dazu, die ſeit 1848 auf dem ganzen Kontinent graſſirt hat, der parlamentariſche Kretinismus, der die Angeſteckten in eine einge¬ bildete Welt feſtbannt und ihnen allen Sinn, alle Erinnerung, alles Ver¬ ſtändniß für die rauhe Außenwelt raubt, dieſer parlamentariſche Kretinismus gehörte dazu, wenn ſie, die alle Bedingungen der parlamentariſchen Macht mit eignen Händen zerſtört hatten und in ihrem Kampfe mit den andern Klaſſen zerſtören mußten, ihre parlamentariſchen Siege noch für Siege hielten und den Präſidenten zu treffen glaubten, indem ſie auf ſeine Miniſter ſchlugen. Sie gaben ihm nur Gelegenheit, die Nationalverſammlung von Neuem in den Augen der Nation zu demüthigen. Am 20. Januar meldete der Moni¬ teur, daß die Entlaſſung des Geſammtminiſteriums angenommen ſei. Unter dem Vorwande, daß keine parlamentariſche Partei mehr die Majorität beſitze, wie das Votum vom 18. Januar, dieſe Frucht der Koalition zwiſchen Mon¬ tagne und Royaliſten beweiſe, und um die Neubildung einer Majorität abzu¬ warten, ernannte Bonaparte ein ſogenanntes Uebergangsminiſterium, wovon kein Mitglied dem Parlamente angehörte, lauter durchaus unbekannte und bedeutungsloſe Individuen, ein Miniſterium von bloßen Kommis und Schrei¬ bern. Die Ordnungspartei konnte ſich jetzt im Spiele mit dieſen Marionetten abarbeiten, die Exekutivgewalt hielt es nicht mehr der Mühe werth, ernſthaft in der Nationalverſammlung vertreten zu ſein. Bonaparte konzentrirte um ſo ſichtbarer die ganze Exekutivgewalt in ſeiner Perſon, er hatte um ſo freiern Spielraum, ſie zu ſeinen Zwecken auszubeuten, je mehr ſeine Miniſter reine Statiſten waren.
Die mit der Montagne koaliſirte Ordnungspartei rächte ſich, indem ſie die präſidentielle Dotation von 1,800,000 Frcs. verwarf, zu deren Vorlage das Haupt der Geſellſchaft vom 10. Dezember ſeine miniſteriellen Kommis gezwungen hatte. Diesmal entſchied eine Majorität von nur 102 Stimmen, es waren alſo ſeit dem 18. Januar neuerdings 27 Stimmen abgefallen, die Auflöſung der Ordnungspartei ging voran. Damit man ſich keinen Augen¬ blick über den Sinn ihrer Koalition mit der Montagne täuſche, verſchmähte ſie gleichzeitig einen von 189 Mitgliedern der Montagne unterzeichneten An¬ trag auf allgemeine Amneſtie der politiſchen Verbrecher auch nur in Betracht zu ziehen. Es genügte, daß der Miniſter des Innern, ein gewiſſer Baiſſé, erklärte, die Ruhe ſei nur ſcheinbar, im Geheimen herrſche große Agitation, im Geheimen organiſirten ſich allgegenwärtige Geſellſchaften, die demokratiſchen
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[62/0074]
parlamentariſchen Schranken zu bewegen. Und es gehörte jene eigenthümliche
Krankheit dazu, die ſeit 1848 auf dem ganzen Kontinent graſſirt hat, der
parlamentariſche Kretinismus, der die Angeſteckten in eine einge¬
bildete Welt feſtbannt und ihnen allen Sinn, alle Erinnerung, alles Ver¬
ſtändniß für die rauhe Außenwelt raubt, dieſer parlamentariſche Kretinismus
gehörte dazu, wenn ſie, die alle Bedingungen der parlamentariſchen Macht
mit eignen Händen zerſtört hatten und in ihrem Kampfe mit den andern
Klaſſen zerſtören mußten, ihre parlamentariſchen Siege noch für Siege hielten
und den Präſidenten zu treffen glaubten, indem ſie auf ſeine Miniſter ſchlugen.
Sie gaben ihm nur Gelegenheit, die Nationalverſammlung von Neuem in
den Augen der Nation zu demüthigen. Am 20. Januar meldete der Moni¬
teur, daß die Entlaſſung des Geſammtminiſteriums angenommen ſei. Unter
dem Vorwande, daß keine parlamentariſche Partei mehr die Majorität beſitze,
wie das Votum vom 18. Januar, dieſe Frucht der Koalition zwiſchen Mon¬
tagne und Royaliſten beweiſe, und um die Neubildung einer Majorität abzu¬
warten, ernannte Bonaparte ein ſogenanntes Uebergangsminiſterium, wovon
kein Mitglied dem Parlamente angehörte, lauter durchaus unbekannte und
bedeutungsloſe Individuen, ein Miniſterium von bloßen Kommis und Schrei¬
bern. Die Ordnungspartei konnte ſich jetzt im Spiele mit dieſen Marionetten
abarbeiten, die Exekutivgewalt hielt es nicht mehr der Mühe werth, ernſthaft
in der Nationalverſammlung vertreten zu ſein. Bonaparte konzentrirte um
ſo ſichtbarer die ganze Exekutivgewalt in ſeiner Perſon, er hatte um ſo freiern
Spielraum, ſie zu ſeinen Zwecken auszubeuten, je mehr ſeine Miniſter reine
Statiſten waren.
Die mit der Montagne koaliſirte Ordnungspartei rächte ſich, indem ſie
die präſidentielle Dotation von 1,800,000 Frcs. verwarf, zu deren Vorlage
das Haupt der Geſellſchaft vom 10. Dezember ſeine miniſteriellen Kommis
gezwungen hatte. Diesmal entſchied eine Majorität von nur 102 Stimmen,
es waren alſo ſeit dem 18. Januar neuerdings 27 Stimmen abgefallen, die
Auflöſung der Ordnungspartei ging voran. Damit man ſich keinen Augen¬
blick über den Sinn ihrer Koalition mit der Montagne täuſche, verſchmähte
ſie gleichzeitig einen von 189 Mitgliedern der Montagne unterzeichneten An¬
trag auf allgemeine Amneſtie der politiſchen Verbrecher auch nur in Betracht
zu ziehen. Es genügte, daß der Miniſter des Innern, ein gewiſſer Baiſſé,
erklärte, die Ruhe ſei nur ſcheinbar, im Geheimen herrſche große Agitation,
im Geheimen organiſirten ſich allgegenwärtige Geſellſchaften, die demokratiſchen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des "Brumaire" erschien 1869 in Hamburg. Sie ist die erste selbstständige Publikation des Textes, der zuerst als Heft 1 (1851) der Zeitschrift "Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften" erschien, und wurde daher gemäß den Leitlinien des DTA für die Digitalisierung zugrunde gelegt.
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Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/74>, abgerufen am 02.03.2025.
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