Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Sechzehn Jahre."

"Leidet sie an Krämpfen oder Fallsucht?"

"Nein, sie ist niemals krank gewesen bis auf den
heutigen Tag."

"Was thut der böse Geist mit ihr?"

"Er ist ihr in den Mund gefahren, denn sie klagte,
daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die
Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund
ist rot und auch ihr Gesicht, und nun liegt sie da und
redet von den Schönheiten des Himmels, in den sie
blicken kann."

Hier war schleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden-
falls eine Vergiftung vor.

"Ich will sehen, ob ich dir helfen kann. Wohnest
du weit von hier?"

"Nein."

"Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?"

"Nein."

"So komm schnell!"

Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gassen
und dann in ein Haus, dessen Aeußeres eine gewisse
Stattlichkeit zeigte. Der Besitzer desselben konnte nicht
zu den ärmeren Leuten gehören. Wir passierten zwei
Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem
niedrigen Polster lag ein Mädchen lang ausgestreckt auf
dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende
Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der
seinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke
gerichtet, laute Gebete murmelte.

"Bist du der Hekim?" fragte ich ihn.

"Ja."

"Was fehlt dieser Kranken?"

"Der Teufel ist in sie gefahren, Herr!"

„Sechzehn Jahre.“

„Leidet ſie an Krämpfen oder Fallſucht?“

„Nein, ſie iſt niemals krank geweſen bis auf den
heutigen Tag.“

„Was thut der böſe Geiſt mit ihr?“

„Er iſt ihr in den Mund gefahren, denn ſie klagte,
daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die
Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund
iſt rot und auch ihr Geſicht, und nun liegt ſie da und
redet von den Schönheiten des Himmels, in den ſie
blicken kann.“

Hier war ſchleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden-
falls eine Vergiftung vor.

„Ich will ſehen, ob ich dir helfen kann. Wohneſt
du weit von hier?“

„Nein.“

„Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?“

„Nein.“

„So komm ſchnell!“

Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gaſſen
und dann in ein Haus, deſſen Aeußeres eine gewiſſe
Stattlichkeit zeigte. Der Beſitzer desſelben konnte nicht
zu den ärmeren Leuten gehören. Wir paſſierten zwei
Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem
niedrigen Polſter lag ein Mädchen lang ausgeſtreckt auf
dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende
Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der
ſeinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke
gerichtet, laute Gebete murmelte.

„Biſt du der Hekim?“ fragte ich ihn.

„Ja.“

„Was fehlt dieſer Kranken?“

„Der Teufel iſt in ſie gefahren, Herr!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0220" n="206"/>
        <p>&#x201E;Sechzehn Jahre.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Leidet &#x017F;ie an Krämpfen oder Fall&#x017F;ucht?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein, &#x017F;ie i&#x017F;t niemals krank gewe&#x017F;en bis auf den<lb/>
heutigen Tag.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was thut der bö&#x017F;e Gei&#x017F;t mit ihr?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Er i&#x017F;t ihr in den Mund gefahren, denn &#x017F;ie klagte,<lb/>
daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die<lb/>
Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund<lb/>
i&#x017F;t rot und auch ihr Ge&#x017F;icht, und nun liegt &#x017F;ie da und<lb/>
redet von den Schönheiten des Himmels, in den &#x017F;ie<lb/>
blicken kann.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Hier war &#x017F;chleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden-<lb/>
falls eine Vergiftung vor.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich will &#x017F;ehen, ob ich dir helfen kann. Wohne&#x017F;t<lb/>
du weit von hier?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So komm &#x017F;chnell!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Ga&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und dann in ein Haus, de&#x017F;&#x017F;en Aeußeres eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Stattlichkeit zeigte. Der Be&#x017F;itzer des&#x017F;elben konnte nicht<lb/>
zu den ärmeren Leuten gehören. Wir pa&#x017F;&#x017F;ierten zwei<lb/>
Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem<lb/>
niedrigen Pol&#x017F;ter lag ein Mädchen lang ausge&#x017F;treckt auf<lb/>
dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende<lb/>
Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der<lb/>
&#x017F;einen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke<lb/>
gerichtet, laute Gebete murmelte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Bi&#x017F;t du der Hekim?&#x201C; fragte ich ihn.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was fehlt die&#x017F;er Kranken?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Der Teufel i&#x017F;t in &#x017F;ie gefahren, Herr!&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0220] „Sechzehn Jahre.“ „Leidet ſie an Krämpfen oder Fallſucht?“ „Nein, ſie iſt niemals krank geweſen bis auf den heutigen Tag.“ „Was thut der böſe Geiſt mit ihr?“ „Er iſt ihr in den Mund gefahren, denn ſie klagte, daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund iſt rot und auch ihr Geſicht, und nun liegt ſie da und redet von den Schönheiten des Himmels, in den ſie blicken kann.“ Hier war ſchleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden- falls eine Vergiftung vor. „Ich will ſehen, ob ich dir helfen kann. Wohneſt du weit von hier?“ „Nein.“ „Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?“ „Nein.“ „So komm ſchnell!“ Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gaſſen und dann in ein Haus, deſſen Aeußeres eine gewiſſe Stattlichkeit zeigte. Der Beſitzer desſelben konnte nicht zu den ärmeren Leuten gehören. Wir paſſierten zwei Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem niedrigen Polſter lag ein Mädchen lang ausgeſtreckt auf dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der ſeinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke gerichtet, laute Gebete murmelte. „Biſt du der Hekim?“ fragte ich ihn. „Ja.“ „Was fehlt dieſer Kranken?“ „Der Teufel iſt in ſie gefahren, Herr!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/220
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/220>, abgerufen am 22.12.2024.