"Wir hatten sie nie gesehen, bis sie uns einst in Lizan aufsuchte. Sie zählte über hundert Jahre, glaubte, nun bald sterben zu müssen, und wollte ihre Kindeskinder einmal sehen. Seit jener Zeit hat sie uns jährlich zwei- mal besucht; aber wir wissen nicht, woher sie kommt und wohin sie geht."
"Habt ihr sie nicht gefragt?"
"Einmal nur, aber da antwortete sie nicht und ver- schwand auf lange Zeit. Seitdem haben wir diese Frage nie wieder ausgesprochen. Sie ist jetzt bei der Kranken. Willst du diese sehen?"
"Ja; kommt!"
Ich fand die Patientin bedeutend besser. Die Röte war verschwunden; der Puls ging matt, aber ruhiger, und sie vermochte, wenn auch mit einiger Anstrengung, doch geläufiger zu sprechen, als da ich sie zuerst gesehen hatte, wo sie in der Betäubung fabulierte. Die Pupille hatte sich verengert, aber die Schlingbeschwerden waren noch vorhanden. Sie blickte mir neugierig entgegen und erhob die Hand, um mir zu danken.
Ich riet, mit dem Kaffee und Citronensaft fortzu- fahren, und empfahl dabei ein heißes Fußbad; dann wollte ich wieder gehen. Da erhob sich die Gestalt der Alten, die bisher am unteren Ende des Lagers gekauert hatte.
"Herr," sagte sie, "ich habe dich für einen Hekim gehalten. Verzeihe, daß ich dir Lohn versprach!"
"Mein Lohn ist die Freude, dir dein Enkelkind er- halten zu dürfen."
"Gott hat deine Hand gesegnet, Emir. Er ist mächtig in dem Schwachen und barmherzig in dem Starken. Wie lange wird die Kranke noch leidend sein?"
"Einige Tage sind genug, um ihre gegenwärtige Schwäche zu überwinden."
„Wir hatten ſie nie geſehen, bis ſie uns einſt in Lizan aufſuchte. Sie zählte über hundert Jahre, glaubte, nun bald ſterben zu müſſen, und wollte ihre Kindeskinder einmal ſehen. Seit jener Zeit hat ſie uns jährlich zwei- mal beſucht; aber wir wiſſen nicht, woher ſie kommt und wohin ſie geht.“
„Habt ihr ſie nicht gefragt?“
„Einmal nur, aber da antwortete ſie nicht und ver- ſchwand auf lange Zeit. Seitdem haben wir dieſe Frage nie wieder ausgeſprochen. Sie iſt jetzt bei der Kranken. Willſt du dieſe ſehen?“
„Ja; kommt!“
Ich fand die Patientin bedeutend beſſer. Die Röte war verſchwunden; der Puls ging matt, aber ruhiger, und ſie vermochte, wenn auch mit einiger Anſtrengung, doch geläufiger zu ſprechen, als da ich ſie zuerſt geſehen hatte, wo ſie in der Betäubung fabulierte. Die Pupille hatte ſich verengert, aber die Schlingbeſchwerden waren noch vorhanden. Sie blickte mir neugierig entgegen und erhob die Hand, um mir zu danken.
Ich riet, mit dem Kaffee und Citronenſaft fortzu- fahren, und empfahl dabei ein heißes Fußbad; dann wollte ich wieder gehen. Da erhob ſich die Geſtalt der Alten, die bisher am unteren Ende des Lagers gekauert hatte.
„Herr,“ ſagte ſie, „ich habe dich für einen Hekim gehalten. Verzeihe, daß ich dir Lohn verſprach!“
„Mein Lohn iſt die Freude, dir dein Enkelkind er- halten zu dürfen.“
„Gott hat deine Hand geſegnet, Emir. Er iſt mächtig in dem Schwachen und barmherzig in dem Starken. Wie lange wird die Kranke noch leidend ſein?“
„Einige Tage ſind genug, um ihre gegenwärtige Schwäche zu überwinden.“
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„Wir hatten ſie nie geſehen, bis ſie uns einſt in
Lizan aufſuchte. Sie zählte über hundert Jahre, glaubte,
nun bald ſterben zu müſſen, und wollte ihre Kindeskinder
einmal ſehen. Seit jener Zeit hat ſie uns jährlich zwei-
mal beſucht; aber wir wiſſen nicht, woher ſie kommt und
wohin ſie geht.“
„Habt ihr ſie nicht gefragt?“
„Einmal nur, aber da antwortete ſie nicht und ver-
ſchwand auf lange Zeit. Seitdem haben wir dieſe Frage
nie wieder ausgeſprochen. Sie iſt jetzt bei der Kranken.
Willſt du dieſe ſehen?“
„Ja; kommt!“
Ich fand die Patientin bedeutend beſſer. Die Röte
war verſchwunden; der Puls ging matt, aber ruhiger,
und ſie vermochte, wenn auch mit einiger Anſtrengung,
doch geläufiger zu ſprechen, als da ich ſie zuerſt geſehen
hatte, wo ſie in der Betäubung fabulierte. Die Pupille
hatte ſich verengert, aber die Schlingbeſchwerden waren
noch vorhanden. Sie blickte mir neugierig entgegen und
erhob die Hand, um mir zu danken.
Ich riet, mit dem Kaffee und Citronenſaft fortzu-
fahren, und empfahl dabei ein heißes Fußbad; dann
wollte ich wieder gehen. Da erhob ſich die Geſtalt der Alten,
die bisher am unteren Ende des Lagers gekauert hatte.
„Herr,“ ſagte ſie, „ich habe dich für einen Hekim
gehalten. Verzeihe, daß ich dir Lohn verſprach!“
„Mein Lohn iſt die Freude, dir dein Enkelkind er-
halten zu dürfen.“
„Gott hat deine Hand geſegnet, Emir. Er iſt mächtig
in dem Schwachen und barmherzig in dem Starken. Wie
lange wird die Kranke noch leidend ſein?“
„Einige Tage ſind genug, um ihre gegenwärtige
Schwäche zu überwinden.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/233>, abgerufen am 22.12.2024.
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