Am andern Morgen besuchte ich zunächst meine Patientin; sie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Mutter war ganz allein bei ihr, wenigstens bekam ich weiter nie- mand zu sehen. Sodann machte ich einen Gang durch und um die Stadt, um eine Stelle in der Mauer aus- findig zu machen, an der es möglich war, hinaus in das Freie zu gelangen, ohne das Thor passieren zu müssen. Es gab eine, aber sie war nicht für Pferde, sondern nur für Fußgänger zu passieren.
Als ich wieder nach Hause kam, hatte sich Selim Agha erst vom Lager erhoben.
"Emir, jetzt ist es Tag," meinte er.
"Bereits schon lange," antwortete ich.
"O, ich meine, daß man nun besser als gestern über unsere Sache reden kann."
"Unsere Sache?"
"Ja, unsere. Du bist ja auch dabei gewesen. Soll ich Anzeige machen oder nicht? Was meinst du, Effendi?"
"Ich an deiner Stelle würde es unterlassen."
"Warum?"
"Weil es besser ist, es wird gar nicht davon ge- sprochen, daß du während der Nacht im Gefängnisse ge- wesen bist. Deine Leute haben jedenfalls bemerkt, daß dein Gang nicht ganz sicher war, und sie könnten dies bei ihrer Vernehmung mit in Erwähnung bringen."
"Das ist wahr! Als ich vorhin erwachte, sah mein Anzug sehr schlimm aus, und ich habe lange reiben müssen, um den Schmutz wegzubringen. Ein Wunder, daß dies Mersinah nicht gesehen hat! Also du meinst, ich soll die Anzeige unterlassen?"
"Ja. Du kannst ja den Leuten einen Verweis geben, und deine Gnade wird sie blenden wie ein Sonnen- strahl."
Am andern Morgen beſuchte ich zunächſt meine Patientin; ſie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Mutter war ganz allein bei ihr, wenigſtens bekam ich weiter nie- mand zu ſehen. Sodann machte ich einen Gang durch und um die Stadt, um eine Stelle in der Mauer aus- findig zu machen, an der es möglich war, hinaus in das Freie zu gelangen, ohne das Thor paſſieren zu müſſen. Es gab eine, aber ſie war nicht für Pferde, ſondern nur für Fußgänger zu paſſieren.
Als ich wieder nach Hauſe kam, hatte ſich Selim Agha erſt vom Lager erhoben.
„Emir, jetzt iſt es Tag,“ meinte er.
„Bereits ſchon lange,“ antwortete ich.
„O, ich meine, daß man nun beſſer als geſtern über unſere Sache reden kann.“
„Unſere Sache?“
„Ja, unſere. Du biſt ja auch dabei geweſen. Soll ich Anzeige machen oder nicht? Was meinſt du, Effendi?“
„Ich an deiner Stelle würde es unterlaſſen.“
„Warum?“
„Weil es beſſer iſt, es wird gar nicht davon ge- ſprochen, daß du während der Nacht im Gefängniſſe ge- weſen biſt. Deine Leute haben jedenfalls bemerkt, daß dein Gang nicht ganz ſicher war, und ſie könnten dies bei ihrer Vernehmung mit in Erwähnung bringen.“
„Das iſt wahr! Als ich vorhin erwachte, ſah mein Anzug ſehr ſchlimm aus, und ich habe lange reiben müſſen, um den Schmutz wegzubringen. Ein Wunder, daß dies Merſinah nicht geſehen hat! Alſo du meinſt, ich ſoll die Anzeige unterlaſſen?“
„Ja. Du kannſt ja den Leuten einen Verweis geben, und deine Gnade wird ſie blenden wie ein Sonnen- ſtrahl.“
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0267"n="253"/><p>Am andern Morgen beſuchte ich zunächſt meine<lb/>
Patientin; ſie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Mutter<lb/>
war ganz allein bei ihr, wenigſtens bekam ich weiter nie-<lb/>
mand zu ſehen. Sodann machte ich einen Gang durch<lb/>
und um die Stadt, um eine Stelle in der Mauer aus-<lb/>
findig zu machen, an der es möglich war, hinaus in das<lb/>
Freie zu gelangen, ohne das Thor paſſieren zu müſſen.<lb/>
Es gab eine, aber ſie war nicht für Pferde, ſondern nur<lb/>
für Fußgänger zu paſſieren.</p><lb/><p>Als ich wieder nach Hauſe kam, hatte ſich Selim<lb/>
Agha erſt vom Lager erhoben.</p><lb/><p>„Emir, jetzt iſt es Tag,“ meinte er.</p><lb/><p>„Bereits ſchon lange,“ antwortete ich.</p><lb/><p>„O, ich meine, daß man nun beſſer als geſtern über<lb/>
unſere Sache reden kann.“</p><lb/><p>„Unſere Sache?“</p><lb/><p>„Ja, unſere. Du biſt ja auch dabei geweſen. Soll<lb/>
ich Anzeige machen oder nicht? Was meinſt du, Effendi?“</p><lb/><p>„Ich an deiner Stelle würde es unterlaſſen.“</p><lb/><p>„Warum?“</p><lb/><p>„Weil es beſſer iſt, es wird gar nicht davon ge-<lb/>ſprochen, daß du während der Nacht im Gefängniſſe ge-<lb/>
weſen biſt. Deine Leute haben jedenfalls bemerkt, daß<lb/>
dein Gang nicht ganz ſicher war, und ſie könnten dies bei<lb/>
ihrer Vernehmung mit in Erwähnung bringen.“</p><lb/><p>„Das iſt wahr! Als ich vorhin erwachte, ſah mein<lb/>
Anzug ſehr ſchlimm aus, und ich habe lange reiben müſſen,<lb/>
um den Schmutz wegzubringen. Ein Wunder, daß dies<lb/>
Merſinah nicht geſehen hat! Alſo du meinſt, ich ſoll die<lb/>
Anzeige unterlaſſen?“</p><lb/><p>„Ja. Du kannſt ja den Leuten einen Verweis geben,<lb/>
und deine Gnade wird ſie blenden wie ein Sonnen-<lb/>ſtrahl.“</p><lb/></div></body></text></TEI>
[253/0267]
Am andern Morgen beſuchte ich zunächſt meine
Patientin; ſie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Mutter
war ganz allein bei ihr, wenigſtens bekam ich weiter nie-
mand zu ſehen. Sodann machte ich einen Gang durch
und um die Stadt, um eine Stelle in der Mauer aus-
findig zu machen, an der es möglich war, hinaus in das
Freie zu gelangen, ohne das Thor paſſieren zu müſſen.
Es gab eine, aber ſie war nicht für Pferde, ſondern nur
für Fußgänger zu paſſieren.
Als ich wieder nach Hauſe kam, hatte ſich Selim
Agha erſt vom Lager erhoben.
„Emir, jetzt iſt es Tag,“ meinte er.
„Bereits ſchon lange,“ antwortete ich.
„O, ich meine, daß man nun beſſer als geſtern über
unſere Sache reden kann.“
„Unſere Sache?“
„Ja, unſere. Du biſt ja auch dabei geweſen. Soll
ich Anzeige machen oder nicht? Was meinſt du, Effendi?“
„Ich an deiner Stelle würde es unterlaſſen.“
„Warum?“
„Weil es beſſer iſt, es wird gar nicht davon ge-
ſprochen, daß du während der Nacht im Gefängniſſe ge-
weſen biſt. Deine Leute haben jedenfalls bemerkt, daß
dein Gang nicht ganz ſicher war, und ſie könnten dies bei
ihrer Vernehmung mit in Erwähnung bringen.“
„Das iſt wahr! Als ich vorhin erwachte, ſah mein
Anzug ſehr ſchlimm aus, und ich habe lange reiben müſſen,
um den Schmutz wegzubringen. Ein Wunder, daß dies
Merſinah nicht geſehen hat! Alſo du meinſt, ich ſoll die
Anzeige unterlaſſen?“
„Ja. Du kannſt ja den Leuten einen Verweis geben,
und deine Gnade wird ſie blenden wie ein Sonnen-
ſtrahl.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/267>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.