mich für einen abendländischen Harun al Raschid, welcher Jagd auf Abenteuer machte.
"Du wirst es aus Vorsicht dennoch leiden müssen," antwortete ich. "Komm, laß dich an meiner Seite nieder und erlaube, daß ich dir einige Fragen vorlege!"
"Herr, deine Güte ist zu groß. Ich bin ein armes, geringes Mädchen, dessen Vater dich noch dazu tödlich be- leidigt hat."
"Vielleicht verzeihe ich ihm um deinetwillen."
"Nicht um meinet-, sondern um meiner Mutter willen, Herr. Er ist nicht mein rechter Vater; der erste Mann meiner Mutter ist gestorben."
"Armes Kind! Und der zweite Mann deiner Mutter ist wohl streng und grausam mit dir?"
Ihr Auge leuchtete auf.
"Streng und grausam? Herr, das sollte er nicht wagen! Nein, aber er verachtet sein Weib und seine Töch- ter; er sieht und hört nicht, daß sie sich in seinem Hause befinden; er will nicht haben, daß wir ihn lieben, und darum -- darum ist es keine Sünde, wenn ich dich zum Ruh 'i kulyan geleite."
"Wann wird dies geschehen?"
"Grad um Mitternacht muß man auf dem Berge sein."
"Er befindet sich in einer Höhle?"
"Ja. Allemal um Mitternacht am ersten Tage der zweiten Woche."
"Aber wie merkt man, daß er zugegen ist?"
"An dem Lichte, welches man mitbringen muß. Man setzt ein Licht vor den Eingang der Höhle und zieht sich zurück. Brennt es fort, so ist der Geist nicht da; ver- löscht es aber, so ist er zugegen. Dann tritt man wieder hinzu, geht drei Schritte weit in die Höhle hinein und sagt, was man will."
mich für einen abendländiſchen Harun al Raſchid, welcher Jagd auf Abenteuer machte.
„Du wirſt es aus Vorſicht dennoch leiden müſſen,“ antwortete ich. „Komm, laß dich an meiner Seite nieder und erlaube, daß ich dir einige Fragen vorlege!“
„Herr, deine Güte iſt zu groß. Ich bin ein armes, geringes Mädchen, deſſen Vater dich noch dazu tödlich be- leidigt hat.“
„Vielleicht verzeihe ich ihm um deinetwillen.“
„Nicht um meinet-, ſondern um meiner Mutter willen, Herr. Er iſt nicht mein rechter Vater; der erſte Mann meiner Mutter iſt geſtorben.“
„Armes Kind! Und der zweite Mann deiner Mutter iſt wohl ſtreng und grauſam mit dir?“
Ihr Auge leuchtete auf.
„Streng und grauſam? Herr, das ſollte er nicht wagen! Nein, aber er verachtet ſein Weib und ſeine Töch- ter; er ſieht und hört nicht, daß ſie ſich in ſeinem Hauſe befinden; er will nicht haben, daß wir ihn lieben, und darum — darum iſt es keine Sünde, wenn ich dich zum Ruh 'i kulyan geleite.“
„Wann wird dies geſchehen?“
„Grad um Mitternacht muß man auf dem Berge ſein.“
„Er befindet ſich in einer Höhle?“
„Ja. Allemal um Mitternacht am erſten Tage der zweiten Woche.“
„Aber wie merkt man, daß er zugegen iſt?“
„An dem Lichte, welches man mitbringen muß. Man ſetzt ein Licht vor den Eingang der Höhle und zieht ſich zurück. Brennt es fort, ſo iſt der Geiſt nicht da; ver- löſcht es aber, ſo iſt er zugegen. Dann tritt man wieder hinzu, geht drei Schritte weit in die Höhle hinein und ſagt, was man will.“
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0582"n="568"/>
mich für einen abendländiſchen Harun al Raſchid, welcher<lb/>
Jagd auf Abenteuer machte.</p><lb/><p>„Du wirſt es aus Vorſicht dennoch leiden müſſen,“<lb/>
antwortete ich. „Komm, laß dich an meiner Seite nieder<lb/>
und erlaube, daß ich dir einige Fragen vorlege!“</p><lb/><p>„Herr, deine Güte iſt zu groß. Ich bin ein armes,<lb/>
geringes Mädchen, deſſen Vater dich noch dazu tödlich be-<lb/>
leidigt hat.“</p><lb/><p>„Vielleicht verzeihe ich ihm um deinetwillen.“</p><lb/><p>„Nicht um meinet-, ſondern um meiner Mutter willen,<lb/>
Herr. Er iſt nicht mein rechter Vater; der erſte Mann<lb/>
meiner Mutter iſt geſtorben.“</p><lb/><p>„Armes Kind! Und der zweite Mann deiner Mutter<lb/>
iſt wohl ſtreng und grauſam mit dir?“</p><lb/><p>Ihr Auge leuchtete auf.</p><lb/><p>„Streng und grauſam? Herr, das ſollte er nicht<lb/>
wagen! Nein, aber er verachtet ſein Weib und ſeine Töch-<lb/>
ter; er ſieht und hört nicht, daß ſie ſich in ſeinem Hauſe<lb/>
befinden; er will nicht haben, daß wir ihn lieben, und<lb/>
darum — darum iſt es keine Sünde, wenn ich dich zum<lb/>
Ruh 'i kulyan geleite.“</p><lb/><p>„Wann wird dies geſchehen?“</p><lb/><p>„Grad um Mitternacht muß man auf dem Berge ſein.“</p><lb/><p>„Er befindet ſich in einer Höhle?“</p><lb/><p>„Ja. Allemal um Mitternacht am erſten Tage der<lb/>
zweiten Woche.“</p><lb/><p>„Aber wie merkt man, daß er zugegen iſt?“</p><lb/><p>„An dem Lichte, welches man mitbringen muß. Man<lb/>ſetzt ein Licht vor den Eingang der Höhle und zieht ſich<lb/>
zurück. Brennt es fort, ſo iſt der Geiſt nicht da; ver-<lb/>
löſcht es aber, ſo iſt er zugegen. Dann tritt man wieder<lb/>
hinzu, geht drei Schritte weit in die Höhle hinein und<lb/>ſagt, was man will.“</p><lb/></div></body></text></TEI>
[568/0582]
mich für einen abendländiſchen Harun al Raſchid, welcher
Jagd auf Abenteuer machte.
„Du wirſt es aus Vorſicht dennoch leiden müſſen,“
antwortete ich. „Komm, laß dich an meiner Seite nieder
und erlaube, daß ich dir einige Fragen vorlege!“
„Herr, deine Güte iſt zu groß. Ich bin ein armes,
geringes Mädchen, deſſen Vater dich noch dazu tödlich be-
leidigt hat.“
„Vielleicht verzeihe ich ihm um deinetwillen.“
„Nicht um meinet-, ſondern um meiner Mutter willen,
Herr. Er iſt nicht mein rechter Vater; der erſte Mann
meiner Mutter iſt geſtorben.“
„Armes Kind! Und der zweite Mann deiner Mutter
iſt wohl ſtreng und grauſam mit dir?“
Ihr Auge leuchtete auf.
„Streng und grauſam? Herr, das ſollte er nicht
wagen! Nein, aber er verachtet ſein Weib und ſeine Töch-
ter; er ſieht und hört nicht, daß ſie ſich in ſeinem Hauſe
befinden; er will nicht haben, daß wir ihn lieben, und
darum — darum iſt es keine Sünde, wenn ich dich zum
Ruh 'i kulyan geleite.“
„Wann wird dies geſchehen?“
„Grad um Mitternacht muß man auf dem Berge ſein.“
„Er befindet ſich in einer Höhle?“
„Ja. Allemal um Mitternacht am erſten Tage der
zweiten Woche.“
„Aber wie merkt man, daß er zugegen iſt?“
„An dem Lichte, welches man mitbringen muß. Man
ſetzt ein Licht vor den Eingang der Höhle und zieht ſich
zurück. Brennt es fort, ſo iſt der Geiſt nicht da; ver-
löſcht es aber, ſo iſt er zugegen. Dann tritt man wieder
hinzu, geht drei Schritte weit in die Höhle hinein und
ſagt, was man will.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/582>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.