Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

um nicht gesehen zu werden. Der Reiter kam eilig näher
und an mir vorüber -- es war der Rais. Schon war
er vorüber, da rief ich ihn an:

"Nedschir-Bey!"

Er hielt sein Pferd an.

Ich machte Dojan von der Leine frei, um ihn in
seinen Bewegungen nicht zu hindern, falls mir sein Bei-
stand nötig würde, und trat dann zu dem Rais.

"Wer bist du?" fragte er.

"Dein Gefangener," antwortete ich, sein Pferd beim
Maule fassend.

Er beugte sich vor und sah mir in das Gesicht. Dann
griff er nach mir; ich aber war schneller und packte seine
Faust.

"Nedschir-Bey, höre in Ruhe, was ich dir zu sagen
habe. Der Ruh 'i kulyan sendet mich: du sollst sofort
zur Höhle kommen."

"Lügner! Wer hat dich befreit?"

"Wirst du dem Rufe des Geistes folgen oder nicht?"

"Hund, ich töte dich!"

Er langte mit seiner freien Hand nach dem Gürtel,
zu gleicher Zeit aber gab ich ihm aus allen Kräften einen
plötzlichen Ruck; er wurde bügellos und flog in einem
weiten Bogen vom Pferde herab.

"Dojan, faß!"

Der Hund warf sich auf ihn, während ich mir Mühe
geben mußte, das Pferd zu beruhigen. Als mir dies
gelungen war, sah ich den Rais bewegungslos am Boden
liegen; Dojan stand über ihm und hatte zwischen seinem
aufgesperrten Gebiß den Hals des Mannes.

"Nedschir-Bey, die kleinste Bewegung oder das leiseste
Wort kostet dir das Leben; dieser Hund ist schlimmer als
ein Panther. Ich werde dich binden und dich mit nach

um nicht geſehen zu werden. Der Reiter kam eilig näher
und an mir vorüber — es war der Raïs. Schon war
er vorüber, da rief ich ihn an:

„Nedſchir-Bey!“

Er hielt ſein Pferd an.

Ich machte Dojan von der Leine frei, um ihn in
ſeinen Bewegungen nicht zu hindern, falls mir ſein Bei-
ſtand nötig würde, und trat dann zu dem Raïs.

„Wer biſt du?“ fragte er.

„Dein Gefangener,“ antwortete ich, ſein Pferd beim
Maule faſſend.

Er beugte ſich vor und ſah mir in das Geſicht. Dann
griff er nach mir; ich aber war ſchneller und packte ſeine
Fauſt.

„Nedſchir-Bey, höre in Ruhe, was ich dir zu ſagen
habe. Der Ruh 'i kulyan ſendet mich: du ſollſt ſofort
zur Höhle kommen.“

„Lügner! Wer hat dich befreit?“

„Wirſt du dem Rufe des Geiſtes folgen oder nicht?“

„Hund, ich töte dich!“

Er langte mit ſeiner freien Hand nach dem Gürtel,
zu gleicher Zeit aber gab ich ihm aus allen Kräften einen
plötzlichen Ruck; er wurde bügellos und flog in einem
weiten Bogen vom Pferde herab.

„Dojan, faß!“

Der Hund warf ſich auf ihn, während ich mir Mühe
geben mußte, das Pferd zu beruhigen. Als mir dies
gelungen war, ſah ich den Raïs bewegungslos am Boden
liegen; Dojan ſtand über ihm und hatte zwiſchen ſeinem
aufgeſperrten Gebiß den Hals des Mannes.

„Nedſchir-Bey, die kleinſte Bewegung oder das leiſeſte
Wort koſtet dir das Leben; dieſer Hund iſt ſchlimmer als
ein Panther. Ich werde dich binden und dich mit nach

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0613" n="599"/>
um nicht ge&#x017F;ehen zu werden. Der Reiter kam eilig näher<lb/>
und an mir vorüber &#x2014; es war der Raïs. Schon war<lb/>
er vorüber, da rief ich ihn an:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ned&#x017F;chir-Bey!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er hielt &#x017F;ein Pferd an.</p><lb/>
        <p>Ich machte Dojan von der Leine frei, um ihn in<lb/>
&#x017F;einen Bewegungen nicht zu hindern, falls mir &#x017F;ein Bei-<lb/>
&#x017F;tand nötig würde, und trat dann zu dem Raïs.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer bi&#x017F;t du?&#x201C; fragte er.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Dein Gefangener,&#x201C; antwortete ich, &#x017F;ein Pferd beim<lb/>
Maule fa&#x017F;&#x017F;end.</p><lb/>
        <p>Er beugte &#x017F;ich vor und &#x017F;ah mir in das Ge&#x017F;icht. Dann<lb/>
griff er nach mir; ich aber war &#x017F;chneller und packte &#x017F;eine<lb/>
Fau&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ned&#x017F;chir-Bey, höre in Ruhe, was ich dir zu &#x017F;agen<lb/>
habe. Der Ruh 'i kulyan &#x017F;endet mich: du &#x017F;oll&#x017F;t &#x017F;ofort<lb/>
zur Höhle kommen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Lügner! Wer hat dich befreit?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wir&#x017F;t du dem Rufe des Gei&#x017F;tes folgen oder nicht?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hund, ich töte dich!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er langte mit &#x017F;einer freien Hand nach dem Gürtel,<lb/>
zu gleicher Zeit aber gab ich ihm aus allen Kräften einen<lb/>
plötzlichen Ruck; er wurde bügellos und flog in einem<lb/>
weiten Bogen vom Pferde herab.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Dojan, faß!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Der Hund warf &#x017F;ich auf ihn, während ich mir Mühe<lb/>
geben mußte, das Pferd zu beruhigen. Als mir dies<lb/>
gelungen war, &#x017F;ah ich den Raïs bewegungslos am Boden<lb/>
liegen; Dojan &#x017F;tand über ihm und hatte zwi&#x017F;chen &#x017F;einem<lb/>
aufge&#x017F;perrten Gebiß den Hals des Mannes.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ned&#x017F;chir-Bey, die klein&#x017F;te Bewegung oder das lei&#x017F;e&#x017F;te<lb/>
Wort ko&#x017F;tet dir das Leben; die&#x017F;er Hund i&#x017F;t &#x017F;chlimmer als<lb/>
ein Panther. Ich werde dich binden und dich mit nach<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[599/0613] um nicht geſehen zu werden. Der Reiter kam eilig näher und an mir vorüber — es war der Raïs. Schon war er vorüber, da rief ich ihn an: „Nedſchir-Bey!“ Er hielt ſein Pferd an. Ich machte Dojan von der Leine frei, um ihn in ſeinen Bewegungen nicht zu hindern, falls mir ſein Bei- ſtand nötig würde, und trat dann zu dem Raïs. „Wer biſt du?“ fragte er. „Dein Gefangener,“ antwortete ich, ſein Pferd beim Maule faſſend. Er beugte ſich vor und ſah mir in das Geſicht. Dann griff er nach mir; ich aber war ſchneller und packte ſeine Fauſt. „Nedſchir-Bey, höre in Ruhe, was ich dir zu ſagen habe. Der Ruh 'i kulyan ſendet mich: du ſollſt ſofort zur Höhle kommen.“ „Lügner! Wer hat dich befreit?“ „Wirſt du dem Rufe des Geiſtes folgen oder nicht?“ „Hund, ich töte dich!“ Er langte mit ſeiner freien Hand nach dem Gürtel, zu gleicher Zeit aber gab ich ihm aus allen Kräften einen plötzlichen Ruck; er wurde bügellos und flog in einem weiten Bogen vom Pferde herab. „Dojan, faß!“ Der Hund warf ſich auf ihn, während ich mir Mühe geben mußte, das Pferd zu beruhigen. Als mir dies gelungen war, ſah ich den Raïs bewegungslos am Boden liegen; Dojan ſtand über ihm und hatte zwiſchen ſeinem aufgeſperrten Gebiß den Hals des Mannes. „Nedſchir-Bey, die kleinſte Bewegung oder das leiſeſte Wort koſtet dir das Leben; dieſer Hund iſt ſchlimmer als ein Panther. Ich werde dich binden und dich mit nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/613
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/613>, abgerufen am 23.12.2024.