Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

uns erblickst, hat Hunderte von Leichen mit sich fort-
gerissen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura
Schina wohnten; frage die Scheiks der christlichen Fürsten,
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies
alles ruhig geschehen ließen! Hat nicht jeder christliche
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Christen
zu schützen, sie mögen sich befinden, wo es nur immer sei?
Ich habe heut um Mitternacht die Christen dieses Thales
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben diese
Emire weniger Macht als ich? Einst war ich Meleka;
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich
habe heut um Mitternacht das Christentum verkündet,
aber nicht das Christentum des Wortes, über dessen Sinn
die Abgefallenen streiten, sondern das Christentum der
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Bösen, und
sie werden es euch später danken, während die Guten, die
sich nach Erlösung sehnen, euer Nahen mit Freudigkeit
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne
Funken im Meere verlöschen, sondern sendet Männer,
vor denen sich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von
einem Hirten und einer Herde sich erfüllen. Hat nicht
dieser eine Hirt bereits seinen Statthalter auf Erden?
Warum wendet ihr selbst euch von ihm weg? Kehrt zu
ihm zurück; dann seid ihr einig, und die Macht dessen,
der euch sendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *)
machen, in dem Milch und Honig fließt!"

Sie hatte während ihrer Rede sich erhoben. Ihre
vorher gebeugte Gestalt stand aufrecht vor mir; in ihren

*) Heiligen Lande.

uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort-
geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura
Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten,
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies
alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten
zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei?
Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe
Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka;
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich
habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet,
aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn
die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und
ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die
ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne
Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer,
vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von
einem Hirten und einer Herde ſich erfüllen. Hat nicht
dieſer eine Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden?
Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu
ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen,
der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *)
machen, in dem Milch und Honig fließt!“

Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre
vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren

*) Heiligen Lande.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0648" n="634"/>
uns erblick&#x017F;t, hat Hunderte von Leichen mit &#x017F;ich fort-<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,<lb/>
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura<lb/>
Schina wohnten; frage die Scheiks der chri&#x017F;tlichen Für&#x017F;ten,<lb/>
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies<lb/>
alles ruhig ge&#x017F;chehen ließen! Hat nicht jeder chri&#x017F;tliche<lb/>
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chri&#x017F;ten<lb/>
zu &#x017F;chützen, &#x017F;ie mögen &#x017F;ich befinden, wo es nur immer &#x017F;ei?<lb/>
Ich habe heut um Mitternacht die Chri&#x017F;ten die&#x017F;es Thales<lb/>
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben die&#x017F;e<lb/>
Emire weniger Macht als ich? Ein&#x017F;t war ich Meleka;<lb/>
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören<lb/>
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich<lb/>
habe heut um Mitternacht das Chri&#x017F;tentum verkündet,<lb/>
aber nicht das Chri&#x017F;tentum des Wortes, über de&#x017F;&#x017F;en Sinn<lb/>
die Abgefallenen &#x017F;treiten, &#x017F;ondern das Chri&#x017F;tentum der<lb/>
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Bö&#x017F;en, und<lb/>
&#x017F;ie werden es euch &#x017F;päter danken, während die Guten, die<lb/>
&#x017F;ich nach Erlö&#x017F;ung &#x017F;ehnen, euer Nahen mit Freudigkeit<lb/>
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne<lb/>
Funken im Meere verlö&#x017F;chen, &#x017F;ondern &#x017F;endet Männer,<lb/>
vor denen &#x017F;ich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die<lb/>
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird<lb/>
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von<lb/><hi rendition="#g">einem</hi> Hirten und <hi rendition="#g">einer</hi> Herde &#x017F;ich erfüllen. Hat nicht<lb/>
die&#x017F;er <hi rendition="#g">eine</hi> Hirt bereits &#x017F;einen Statthalter auf Erden?<lb/>
Warum wendet ihr &#x017F;elb&#x017F;t euch von ihm weg? Kehrt zu<lb/>
ihm zurück; dann &#x017F;eid ihr einig, und die Macht de&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
der euch &#x017F;endet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds <note place="foot" n="*)">Heiligen Lande.</note><lb/>
machen, in dem Milch und Honig fließt!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie hatte während ihrer Rede &#x017F;ich erhoben. Ihre<lb/>
vorher gebeugte Ge&#x017F;talt &#x017F;tand aufrecht vor mir; in ihren<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[634/0648] uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort- geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens, die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten, die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei? Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka; jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet, aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer, vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von einem Hirten und einer Herde ſich erfüllen. Hat nicht dieſer eine Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden? Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen, der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *) machen, in dem Milch und Honig fließt!“ Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren *) Heiligen Lande.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/648
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/648>, abgerufen am 23.12.2024.