1. In der Justiz wirkt das Gesetz sowohl auf den Einzelnen als auf das Gericht; beide stehen unter dem Gesetz. Über diesen ganz allgemeinen Begriff geht aber die Gleichheit der Wirkung nicht hinaus. Man kann nicht sagen, dass das Gesetz für das Gericht auf dieselbe Weise massgebend sei wie für den Einzelnen. Diesem befiehlt es, weist es sein rechtliches Schicksal an, ihm giebt es obrig- keitlich die Bedingungen seines Daseins. Das Gericht aber ist selbst Träger obrigkeitlicher Gewalt, die viva vox legis; es steht auf der Seite des Gesetzes; seine Gewalt ist von der des Gesetzes nur dem Grade nach verschieden. Es wird vom Gesetz nicht wie der Unter- than beherrscht, sondern wie der untergeordnete Mitarbeiter ge- leitet. Das Verhältnis der Verwaltung zum Gesetz ist grundsätzlich das gleiche wie das der Justiz. Die Leitung, welche ihr das Gesetz giebt, ist nicht von derselben strengen Einförmigkeit; sie lässt ihr verhältnismässig viel mehr freien Spielraum. Aber sie bleibt in allen Fällen Leitung wie dort.
Für die Justiz hat dabei das Gesetz immer schon vorgesehen, was geschehen soll; es enthält für jeden Einzelfall die Bestimmung, was für ihn Rechtens ist. Was das Gericht zu thun hat, ist nur der förmliche Ausspruch dessen, was das Gesetz gewollt hat. Es macht nur die Anwendung des Gesetzes. Das Ermessen, welches es dabei übt, geht bloss auf Anpassung des Thatbestandes mit seinen Besonderheiten an den Willen des Gesetzes.
Die Verwaltung kann nicht in dieser Weise durchweg gebunden sein. Bei ihr zeigt sich eine Stufenfolge von der strengsten Gebunden- heit bis zu freiester Bewegung.
Das Gesetz kann ihre Thätigkeit so genau bestimmen, wie die der Justiz, so dass sie in der That nichts thut als das Gesetz anwenden.
Es kann in derselben Weise alles, was zu geschehen hat, genau bestimmen, aber der Verwaltung überlassen, ob sie im Einzel- fall das von ihm Vorgesehene zur Geltung kommen lassen will, sei es, dass es von ihrem Entschluss abhängig gemacht wird, ob es wirk- sam wird, sei es, dass ihr die Möglichkeit gelassen wird, durch eignen Entschluss davon zu entbinden.
Es kann unvollständig bestimmen, derart dass das, was Rechtens wird, erst noch ergänzt werden soll durch die Verwaltung, die schöpferisch durch eigene Zuthaten den Inhalt des staatlichen Willens für den gegebenen Fall fertig stellt5.
5 Für diese Stufenfolge diene als Beispiel: Gew.O. § 57, § 68 und 56 c, § 24.
Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung.
1. In der Justiz wirkt das Gesetz sowohl auf den Einzelnen als auf das Gericht; beide stehen unter dem Gesetz. Über diesen ganz allgemeinen Begriff geht aber die Gleichheit der Wirkung nicht hinaus. Man kann nicht sagen, daſs das Gesetz für das Gericht auf dieselbe Weise maſsgebend sei wie für den Einzelnen. Diesem befiehlt es, weist es sein rechtliches Schicksal an, ihm giebt es obrig- keitlich die Bedingungen seines Daseins. Das Gericht aber ist selbst Träger obrigkeitlicher Gewalt, die viva vox legis; es steht auf der Seite des Gesetzes; seine Gewalt ist von der des Gesetzes nur dem Grade nach verschieden. Es wird vom Gesetz nicht wie der Unter- than beherrscht, sondern wie der untergeordnete Mitarbeiter ge- leitet. Das Verhältnis der Verwaltung zum Gesetz ist grundsätzlich das gleiche wie das der Justiz. Die Leitung, welche ihr das Gesetz giebt, ist nicht von derselben strengen Einförmigkeit; sie läſst ihr verhältnismäſsig viel mehr freien Spielraum. Aber sie bleibt in allen Fällen Leitung wie dort.
Für die Justiz hat dabei das Gesetz immer schon vorgesehen, was geschehen soll; es enthält für jeden Einzelfall die Bestimmung, was für ihn Rechtens ist. Was das Gericht zu thun hat, ist nur der förmliche Ausspruch dessen, was das Gesetz gewollt hat. Es macht nur die Anwendung des Gesetzes. Das Ermessen, welches es dabei übt, geht bloſs auf Anpassung des Thatbestandes mit seinen Besonderheiten an den Willen des Gesetzes.
Die Verwaltung kann nicht in dieser Weise durchweg gebunden sein. Bei ihr zeigt sich eine Stufenfolge von der strengsten Gebunden- heit bis zu freiester Bewegung.
Das Gesetz kann ihre Thätigkeit so genau bestimmen, wie die der Justiz, so daſs sie in der That nichts thut als das Gesetz anwenden.
Es kann in derselben Weise alles, was zu geschehen hat, genau bestimmen, aber der Verwaltung überlassen, ob sie im Einzel- fall das von ihm Vorgesehene zur Geltung kommen lassen will, sei es, daſs es von ihrem Entschluſs abhängig gemacht wird, ob es wirk- sam wird, sei es, daſs ihr die Möglichkeit gelassen wird, durch eignen Entschluſs davon zu entbinden.
Es kann unvollständig bestimmen, derart daſs das, was Rechtens wird, erst noch ergänzt werden soll durch die Verwaltung, die schöpferisch durch eigene Zuthaten den Inhalt des staatlichen Willens für den gegebenen Fall fertig stellt5.
5 Für diese Stufenfolge diene als Beispiel: Gew.O. § 57, § 68 und 56 c, § 24.
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Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung.
1. In der Justiz wirkt das Gesetz sowohl auf den Einzelnen als
auf das Gericht; beide stehen unter dem Gesetz. Über diesen
ganz allgemeinen Begriff geht aber die Gleichheit der Wirkung nicht
hinaus. Man kann nicht sagen, daſs das Gesetz für das Gericht auf
dieselbe Weise maſsgebend sei wie für den Einzelnen. Diesem
befiehlt es, weist es sein rechtliches Schicksal an, ihm giebt es obrig-
keitlich die Bedingungen seines Daseins. Das Gericht aber ist selbst
Träger obrigkeitlicher Gewalt, die viva vox legis; es steht auf der
Seite des Gesetzes; seine Gewalt ist von der des Gesetzes nur dem
Grade nach verschieden. Es wird vom Gesetz nicht wie der Unter-
than beherrscht, sondern wie der untergeordnete Mitarbeiter ge-
leitet. Das Verhältnis der Verwaltung zum Gesetz ist grundsätzlich
das gleiche wie das der Justiz. Die Leitung, welche ihr das Gesetz
giebt, ist nicht von derselben strengen Einförmigkeit; sie läſst ihr
verhältnismäſsig viel mehr freien Spielraum. Aber sie bleibt in allen
Fällen Leitung wie dort.
Für die Justiz hat dabei das Gesetz immer schon vorgesehen,
was geschehen soll; es enthält für jeden Einzelfall die Bestimmung,
was für ihn Rechtens ist. Was das Gericht zu thun hat, ist nur der
förmliche Ausspruch dessen, was das Gesetz gewollt hat. Es macht
nur die Anwendung des Gesetzes. Das Ermessen, welches es
dabei übt, geht bloſs auf Anpassung des Thatbestandes mit seinen
Besonderheiten an den Willen des Gesetzes.
Die Verwaltung kann nicht in dieser Weise durchweg gebunden
sein. Bei ihr zeigt sich eine Stufenfolge von der strengsten Gebunden-
heit bis zu freiester Bewegung.
Das Gesetz kann ihre Thätigkeit so genau bestimmen, wie die der
Justiz, so daſs sie in der That nichts thut als das Gesetz anwenden.
Es kann in derselben Weise alles, was zu geschehen hat,
genau bestimmen, aber der Verwaltung überlassen, ob sie im Einzel-
fall das von ihm Vorgesehene zur Geltung kommen lassen will, sei
es, daſs es von ihrem Entschluſs abhängig gemacht wird, ob es wirk-
sam wird, sei es, daſs ihr die Möglichkeit gelassen wird, durch eignen
Entschluſs davon zu entbinden.
Es kann unvollständig bestimmen, derart daſs das, was Rechtens
wird, erst noch ergänzt werden soll durch die Verwaltung,
die schöpferisch durch eigene Zuthaten den Inhalt des staatlichen
Willens für den gegebenen Fall fertig stellt 5.
5 Für diese Stufenfolge diene als Beispiel: Gew.O. § 57, § 68 und
56 c, § 24.
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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/104>, abgerufen am 22.12.2024.
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