So können wir sagen, dass aus dem jahrhundertelangen Kampfe der französischen Parlamente mit der königlichen Verwaltung, der auch sonst manche bedeutsame Spuren im französischen Rechte zurück- gelassen hat, schliesslich doch die Parlamente als Sieger hervor- gegangen sind. Es ist nicht gelungen, die Verwaltung der Macht der Justiz äusserlich zu unterwerfen. Aber sie hat sich zu den Ideen bekennen müssen, deren Trägerin die Justiz war. Die Rechtsordnung, in welcher diese sich darstellte, beruhte auf einem ganz bestimmten System von rechtlicher Gebundenheit: das Gesetz über alles, das Urteil gebunden an das Gesetz, die That der Vollstreckung gebunden an das Urteil. In der Übertragung dieser Gebundenheiten auf die Verwaltung liegt die Grundidee des neuen französischen Verwaltungsrechtes.
II. Es ist bekannt, wie das französische Verfassungsrecht mass- gebenden Einfluss geübt hat auf alle die Verfassungsurkunden, welche seit Anfang dieses Jahrhunderts nach und nach in den deutschen Staaten -- die süddeutschen bedeutend voraus -- errichtet wurden. Eine Umwälzung wie in Frankreich war damit nicht verbunden. Der deutsche Landesfürst ist und bleibt ein ganz anderer Mann als das abstrakte französische Staatsoberhaupt. Die Idee der Volkssouveränetät ist bei uns nicht zur Grundlage des Staatsgebäudes geworden. Die ganze Staatsgewalt ist grundsätzlich im Fürsten vereinigt. Das Neue ist nur die Hinzufügung einer Volksvertretung zur Mitwirkung an Gesetzgebung und Steuerauflage. Auch das ist an den meisten Orten nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Vergangenheit. Die alten Landstände, welche gewisse Rechte in eben diesen Dingen auszuüben hatten, waren zum Teil noch lebendig oder wenigstens in frischer Erinnerung.
Was dem französischen Verfassungsrechte entlehnt ist, das ist vor allem die juristische Form, in welcher die Mitwirkung der Volksvertretung zum Ausdruck gebracht wird. Während die alten Landstände mit gewissen beschränkenden Rechten und Privilegien der Staatsgewalt gegenüberstanden, hat die Volks- vertretung einen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt selbst. Eine besondere, wichtigste Art von Willensäusserung derselben wird ausgeschieden, die nur unter Mitwirkung der Volksvertretung ent- stehen kann: das Gesetz. Unter diesem soll alle übrige Staats- thätigkeit stehen. Das Genauere geben die Verfassungsurkunden nur spärlich an, vermögen es auch nur unvollkommen anzugeben: die konstitutionelle Theorie, die in der Luft liegt, das heisst thatsächlich
Geschichtliche Entwicklungsstufen.
So können wir sagen, daſs aus dem jahrhundertelangen Kampfe der französischen Parlamente mit der königlichen Verwaltung, der auch sonst manche bedeutsame Spuren im französischen Rechte zurück- gelassen hat, schlieſslich doch die Parlamente als Sieger hervor- gegangen sind. Es ist nicht gelungen, die Verwaltung der Macht der Justiz äuſserlich zu unterwerfen. Aber sie hat sich zu den Ideen bekennen müssen, deren Trägerin die Justiz war. Die Rechtsordnung, in welcher diese sich darstellte, beruhte auf einem ganz bestimmten System von rechtlicher Gebundenheit: das Gesetz über alles, das Urteil gebunden an das Gesetz, die That der Vollstreckung gebunden an das Urteil. In der Übertragung dieser Gebundenheiten auf die Verwaltung liegt die Grundidee des neuen französischen Verwaltungsrechtes.
II. Es ist bekannt, wie das französische Verfassungsrecht maſs- gebenden Einfluſs geübt hat auf alle die Verfassungsurkunden, welche seit Anfang dieses Jahrhunderts nach und nach in den deutschen Staaten — die süddeutschen bedeutend voraus — errichtet wurden. Eine Umwälzung wie in Frankreich war damit nicht verbunden. Der deutsche Landesfürst ist und bleibt ein ganz anderer Mann als das abstrakte französische Staatsoberhaupt. Die Idee der Volkssouveränetät ist bei uns nicht zur Grundlage des Staatsgebäudes geworden. Die ganze Staatsgewalt ist grundsätzlich im Fürsten vereinigt. Das Neue ist nur die Hinzufügung einer Volksvertretung zur Mitwirkung an Gesetzgebung und Steuerauflage. Auch das ist an den meisten Orten nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Vergangenheit. Die alten Landstände, welche gewisse Rechte in eben diesen Dingen auszuüben hatten, waren zum Teil noch lebendig oder wenigstens in frischer Erinnerung.
Was dem französischen Verfassungsrechte entlehnt ist, das ist vor allem die juristische Form, in welcher die Mitwirkung der Volksvertretung zum Ausdruck gebracht wird. Während die alten Landstände mit gewissen beschränkenden Rechten und Privilegien der Staatsgewalt gegenüberstanden, hat die Volks- vertretung einen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt selbst. Eine besondere, wichtigste Art von Willensäuſserung derselben wird ausgeschieden, die nur unter Mitwirkung der Volksvertretung ent- stehen kann: das Gesetz. Unter diesem soll alle übrige Staats- thätigkeit stehen. Das Genauere geben die Verfassungsurkunden nur spärlich an, vermögen es auch nur unvollkommen anzugeben: die konstitutionelle Theorie, die in der Luft liegt, das heiſst thatsächlich
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Geschichtliche Entwicklungsstufen.
So können wir sagen, daſs aus dem jahrhundertelangen Kampfe
der französischen Parlamente mit der königlichen Verwaltung, der
auch sonst manche bedeutsame Spuren im französischen Rechte zurück-
gelassen hat, schlieſslich doch die Parlamente als Sieger hervor-
gegangen sind. Es ist nicht gelungen, die Verwaltung der Macht der
Justiz äuſserlich zu unterwerfen. Aber sie hat sich zu den Ideen
bekennen müssen, deren Trägerin die Justiz war. Die Rechtsordnung,
in welcher diese sich darstellte, beruhte auf einem ganz bestimmten
System von rechtlicher Gebundenheit: das Gesetz über alles, das
Urteil gebunden an das Gesetz, die That der Vollstreckung gebunden
an das Urteil. In der Übertragung dieser Gebundenheiten
auf die Verwaltung liegt die Grundidee des neuen französischen
Verwaltungsrechtes.
II. Es ist bekannt, wie das französische Verfassungsrecht maſs-
gebenden Einfluſs geübt hat auf alle die Verfassungsurkunden,
welche seit Anfang dieses Jahrhunderts nach und nach in den deutschen
Staaten — die süddeutschen bedeutend voraus — errichtet wurden.
Eine Umwälzung wie in Frankreich war damit nicht verbunden. Der
deutsche Landesfürst ist und bleibt ein ganz anderer Mann als das
abstrakte französische Staatsoberhaupt. Die Idee der Volkssouveränetät
ist bei uns nicht zur Grundlage des Staatsgebäudes geworden. Die
ganze Staatsgewalt ist grundsätzlich im Fürsten vereinigt. Das Neue
ist nur die Hinzufügung einer Volksvertretung zur Mitwirkung an
Gesetzgebung und Steuerauflage. Auch das ist an den meisten Orten
nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Vergangenheit. Die alten
Landstände, welche gewisse Rechte in eben diesen Dingen auszuüben
hatten, waren zum Teil noch lebendig oder wenigstens in frischer
Erinnerung.
Was dem französischen Verfassungsrechte entlehnt ist, das ist
vor allem die juristische Form, in welcher die Mitwirkung
der Volksvertretung zum Ausdruck gebracht wird.
Während die alten Landstände mit gewissen beschränkenden Rechten
und Privilegien der Staatsgewalt gegenüberstanden, hat die Volks-
vertretung einen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt selbst.
Eine besondere, wichtigste Art von Willensäuſserung derselben wird
ausgeschieden, die nur unter Mitwirkung der Volksvertretung ent-
stehen kann: das Gesetz. Unter diesem soll alle übrige Staats-
thätigkeit stehen. Das Genauere geben die Verfassungsurkunden nur
spärlich an, vermögen es auch nur unvollkommen anzugeben: die
konstitutionelle Theorie, die in der Luft liegt, das heiſst thatsächlich
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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/80>, abgerufen am 22.12.2024.
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