Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896.Kunst und Proletariat. "Neue Welt" aufnehmen solle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬kratie sei und deshalb künstlerische Ansprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil stimmt aufs Haar. Herr Land hat den besten Willen gehabt, einen Ausschnitt aus dem proletarischen Klassenkampfe in einem dem Proletariat sympathischen Sinne zu geben, aber er hat keine blasse Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬ kreisen eigentlich hergeht; sein Roman ist eine romantische Dichtung im ver¬ wegensten Sinne des Wortes. Und deshalb ist es überaus bezeichnend, daß so viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt haben; über dem Mangel an künstlerischer Gestaltungsfähigkeit übersahen sie voll¬ ständig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters. Anders und doch wieder ähnlich mit der "Mutter Bertha", der auf dem Das Ideal der "reinen Kunst" ist überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬ Natürlich ist die "reine Kunst", indem sie angeblich parteilos sein will, Kunſt und Proletariat. „Neue Welt“ aufnehmen ſolle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬kratie ſei und deshalb künſtleriſche Anſprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil ſtimmt aufs Haar. Herr Land hat den beſten Willen gehabt, einen Ausſchnitt aus dem proletariſchen Klaſſenkampfe in einem dem Proletariat ſympathiſchen Sinne zu geben, aber er hat keine blaſſe Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬ kreiſen eigentlich hergeht; ſein Roman iſt eine romantiſche Dichtung im ver¬ wegenſten Sinne des Wortes. Und deshalb iſt es überaus bezeichnend, daß ſo viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt haben; über dem Mangel an künſtleriſcher Geſtaltungsfähigkeit überſahen ſie voll¬ ſtändig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters. Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha“, der auf dem Das Ideal der „reinen Kunſt“ iſt überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬ Natürlich iſt die „reine Kunſt“, indem ſie angeblich parteilos ſein will, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0017" n="131"/><fw place="top" type="header">Kunſt und Proletariat.<lb/></fw> „Neue Welt“ aufnehmen ſolle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬<lb/> kratie ſei und deshalb künſtleriſche Anſprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil<lb/> ſtimmt aufs Haar. Herr Land hat den beſten Willen gehabt, einen Ausſchnitt<lb/> aus dem proletariſchen Klaſſenkampfe in einem dem Proletariat ſympathiſchen<lb/> Sinne zu geben, aber er hat keine blaſſe Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬<lb/> kreiſen eigentlich hergeht; ſein Roman iſt eine romantiſche Dichtung im ver¬<lb/> wegenſten Sinne des Wortes. Und deshalb iſt es überaus bezeichnend, daß<lb/> ſo viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt<lb/> haben; über dem Mangel an künſtleriſcher Geſtaltungsfähigkeit überſahen ſie voll¬<lb/> ſtändig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters.</p><lb/> <p>Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha“, der auf dem<lb/> Parteitag mit ſo geringer Galanterie begegnet worden iſt. Der Roman Hegelers<lb/> überragt dichteriſch den Roman Lands, und es wäre unſeres Erachtens ſehr un¬<lb/> gerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verleſenen Stelle zu be-<lb/> und verurtheilen. Die paar Sätze hätten ruhig geſtrichen werden können, ohne<lb/> den Roman zu ſchädigen, aber freilich — hier liegt wieder der Haſe im Pfeffer.<lb/> Der moderne Arbeiter iſt nichts weniger als prüde; er läßt ſich weit ärgere<lb/> — im Sinne der Philiſtermoral — ärgere Dinge bieten, als in der „Mutter<lb/> Bertha“ vorkommen, aber alles an ſeinem Orte. Gerade weil die Vertreter der<lb/> modernen Kunſt derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil<lb/> ſie den Heldenmuth, den ſie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermiſſen<lb/> laſſen, dadurch bezeugen wollen, daß ſie natürliche Dinge auf offener Straße<lb/> thun, die man ſonſt zwiſchen vier Wänden zu thun pflegt, erregen ſie herzhaften<lb/> Widerwillen. Im Uebrigen iſt „Mutter Bertha“ bei allem anerkennenswerthen<lb/> Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine ſehr<lb/> romantiſche Dame, wie denn die moderne Kunſt von der bürgerlichen Romantik<lb/> weit weniger frei iſt, als ſie ſelbſt glaubt.</p><lb/> <p>Das Ideal der „reinen Kunſt“ iſt überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬<lb/> romantiſchen Schule, das jede revolutionäre Klaſſe nur ſehr mit Vorbehalt an¬<lb/> treten wird. Es iſt mindeſtens ebenſo einſeitig, wie die Moralfexerei einſeitig<lb/> war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert<lb/> begann. Sollte den äſthetiſchen Anſchauungen der modernen Arbeiterklaſſe wirklich<lb/> noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, ſo braucht ſie ſich deſſen gar nicht<lb/> zu ſchämen. Sie kann ſich deshalb auf den jungen Leſſing und den jungen<lb/> Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine „moraliſche Anſtalt“ ſahen.<lb/> Früher waren die Vertreter der „reinen Kunſt“ auch offenherzige Reaktionäre<lb/> und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß ſie der Himmel weiß welche<lb/> Revolutionäre ſeien. Der alte Vilmar verdonnert in ſeiner Literaturgeſchichte<lb/> vom Standpunkt der „reinen Kunſt“ Schillers „Kabale und Liebe“ als eine<lb/> ekelhafte Karrikatur, und das iſt vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt<lb/> der „reinen Kunſt“ richtig ſein ſoll. So lächerlich wie Herr Brahm, der „Kabale<lb/> und Liebe“, noch dazu in „naturaliſtiſcher“ Verhunzung, als ein prunkendes Meiſter¬<lb/> ſtück aufführen läßt und dabei die putzigſten Geſichter ſchneidet über die banauſiſche<lb/> Arbeiterklaſſe, die das „Kapital“ von Marx dramatiſirt ſehen wolle, waren die<lb/> alten Reaktionäre der „reinen Kunſt“ nicht. Mit dieſen gelungenen Exemplaren<lb/> moderner Geſinnungstüchtigkeit hat uns erſt die moderne Kunſt geſegnet.</p><lb/> <p>Natürlich iſt die „reine Kunſt“, indem ſie angeblich parteilos ſein will,<lb/> erſt recht parteiiſch. Will ſie auf einer höheren Warte ſtehen, als auf der Zinne<lb/> der Partei, ſo muß ſie nach rechts und nach links ſehen, ſo muß ſie nicht nur<lb/> die alte, vergehende, ſondern auch die neue, entſtehende Welt ſchildern. Wir<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [131/0017]
Kunſt und Proletariat.
„Neue Welt“ aufnehmen ſolle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬
kratie ſei und deshalb künſtleriſche Anſprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil
ſtimmt aufs Haar. Herr Land hat den beſten Willen gehabt, einen Ausſchnitt
aus dem proletariſchen Klaſſenkampfe in einem dem Proletariat ſympathiſchen
Sinne zu geben, aber er hat keine blaſſe Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬
kreiſen eigentlich hergeht; ſein Roman iſt eine romantiſche Dichtung im ver¬
wegenſten Sinne des Wortes. Und deshalb iſt es überaus bezeichnend, daß
ſo viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt
haben; über dem Mangel an künſtleriſcher Geſtaltungsfähigkeit überſahen ſie voll¬
ſtändig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters.
Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha“, der auf dem
Parteitag mit ſo geringer Galanterie begegnet worden iſt. Der Roman Hegelers
überragt dichteriſch den Roman Lands, und es wäre unſeres Erachtens ſehr un¬
gerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verleſenen Stelle zu be-
und verurtheilen. Die paar Sätze hätten ruhig geſtrichen werden können, ohne
den Roman zu ſchädigen, aber freilich — hier liegt wieder der Haſe im Pfeffer.
Der moderne Arbeiter iſt nichts weniger als prüde; er läßt ſich weit ärgere
— im Sinne der Philiſtermoral — ärgere Dinge bieten, als in der „Mutter
Bertha“ vorkommen, aber alles an ſeinem Orte. Gerade weil die Vertreter der
modernen Kunſt derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil
ſie den Heldenmuth, den ſie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermiſſen
laſſen, dadurch bezeugen wollen, daß ſie natürliche Dinge auf offener Straße
thun, die man ſonſt zwiſchen vier Wänden zu thun pflegt, erregen ſie herzhaften
Widerwillen. Im Uebrigen iſt „Mutter Bertha“ bei allem anerkennenswerthen
Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine ſehr
romantiſche Dame, wie denn die moderne Kunſt von der bürgerlichen Romantik
weit weniger frei iſt, als ſie ſelbſt glaubt.
Das Ideal der „reinen Kunſt“ iſt überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬
romantiſchen Schule, das jede revolutionäre Klaſſe nur ſehr mit Vorbehalt an¬
treten wird. Es iſt mindeſtens ebenſo einſeitig, wie die Moralfexerei einſeitig
war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert
begann. Sollte den äſthetiſchen Anſchauungen der modernen Arbeiterklaſſe wirklich
noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, ſo braucht ſie ſich deſſen gar nicht
zu ſchämen. Sie kann ſich deshalb auf den jungen Leſſing und den jungen
Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine „moraliſche Anſtalt“ ſahen.
Früher waren die Vertreter der „reinen Kunſt“ auch offenherzige Reaktionäre
und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß ſie der Himmel weiß welche
Revolutionäre ſeien. Der alte Vilmar verdonnert in ſeiner Literaturgeſchichte
vom Standpunkt der „reinen Kunſt“ Schillers „Kabale und Liebe“ als eine
ekelhafte Karrikatur, und das iſt vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt
der „reinen Kunſt“ richtig ſein ſoll. So lächerlich wie Herr Brahm, der „Kabale
und Liebe“, noch dazu in „naturaliſtiſcher“ Verhunzung, als ein prunkendes Meiſter¬
ſtück aufführen läßt und dabei die putzigſten Geſichter ſchneidet über die banauſiſche
Arbeiterklaſſe, die das „Kapital“ von Marx dramatiſirt ſehen wolle, waren die
alten Reaktionäre der „reinen Kunſt“ nicht. Mit dieſen gelungenen Exemplaren
moderner Geſinnungstüchtigkeit hat uns erſt die moderne Kunſt geſegnet.
Natürlich iſt die „reine Kunſt“, indem ſie angeblich parteilos ſein will,
erſt recht parteiiſch. Will ſie auf einer höheren Warte ſtehen, als auf der Zinne
der Partei, ſo muß ſie nach rechts und nach links ſehen, ſo muß ſie nicht nur
die alte, vergehende, ſondern auch die neue, entſtehende Welt ſchildern. Wir
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