säumt. Das erwürgte Kind ward gehörig besichtigt; die angebliche Verbrecherin keines- wegs. Bei einer körperlichen Untersuchung müste es sich doch wohl unläugbar ergeben haben, daß sie nicht erst vor kurzem wieder Mutter geworden seyn könne. Aber weil so viel gegen sie sprach; der Ort, wo sie gefun- den worden, ihr sichtliches Halten des Päckt- chens in Händen, ihr Wegwerfen und Weg- gehn, ihr Läugnen und Erschrecken, selbst ihr ehmahliger Fehltritt -- so war man fest über- zeugt, daß alles ihr Betheuern und Schwö- ren eitel Unwahrheit sey; verhörte sie nach dem gewöhnlichen Schneckengange teutscher Kri- minaljustiz, und -- verschickte die Akten.
Noch galt damals leider bei Gerichtshöfen und Schöppenstühlen die Folter für das einzige Mittel verstockte Sünder zum Geständ- nis zu bringen. Lieber zehn Unschuldige ge- peinigt, als einen Bösewicht durchschlüpfen lassen! Dies war der unselige Grundsaz, nach welchem Urtheilsverfasser sprachen, die
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ſaͤumt. Das erwuͤrgte Kind ward gehoͤrig beſichtigt; die angebliche Verbrecherin keines- wegs. Bei einer koͤrperlichen Unterſuchung muͤſte es ſich doch wohl unlaͤugbar ergeben haben, daß ſie nicht erſt vor kurzem wieder Mutter geworden ſeyn koͤnne. Aber weil ſo viel gegen ſie ſprach; der Ort, wo ſie gefun- den worden, ihr ſichtliches Halten des Paͤckt- chens in Haͤnden, ihr Wegwerfen und Weg- gehn, ihr Laͤugnen und Erſchrecken, ſelbſt ihr ehmahliger Fehltritt — ſo war man feſt uͤber- zeugt, daß alles ihr Betheuern und Schwoͤ- ren eitel Unwahrheit ſey; verhoͤrte ſie nach dem gewoͤhnlichen Schneckengange teutſcher Kri- minaljuſtiz, und — verſchickte die Akten.
Noch galt damals leider bei Gerichtshoͤfen und Schoͤppenſtuͤhlen die Folter fuͤr das einzige Mittel verſtockte Suͤnder zum Geſtaͤnd- nis zu bringen. Lieber zehn Unſchuldige ge- peinigt, als einen Boͤſewicht durchſchluͤpfen laſſen! Dies war der unſelige Grundſaz, nach welchem Urtheilsverfaſſer ſprachen, die
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ſaͤumt. Das erwuͤrgte Kind ward gehoͤrig
beſichtigt; die angebliche Verbrecherin keines-
wegs. Bei einer koͤrperlichen Unterſuchung
muͤſte es ſich doch wohl unlaͤugbar ergeben
haben, daß ſie nicht erſt vor kurzem wieder
Mutter geworden ſeyn koͤnne. Aber weil ſo
viel gegen ſie ſprach; der Ort, wo ſie gefun-
den worden, ihr ſichtliches Halten des Paͤckt-
chens in Haͤnden, ihr Wegwerfen und Weg-
gehn, ihr Laͤugnen und Erſchrecken, ſelbſt ihr
ehmahliger Fehltritt — ſo war man feſt uͤber-
zeugt, daß alles ihr Betheuern und Schwoͤ-
ren eitel Unwahrheit ſey; verhoͤrte ſie nach dem
gewoͤhnlichen Schneckengange teutſcher Kri-
minaljuſtiz, und — verſchickte die Akten.
Noch galt damals leider bei Gerichtshoͤfen
und Schoͤppenſtuͤhlen die Folter fuͤr das
einzige Mittel verſtockte Suͤnder zum Geſtaͤnd-
nis zu bringen. Lieber zehn Unſchuldige ge-
peinigt, als einen Boͤſewicht durchſchluͤpfen
laſſen! Dies war der unſelige Grundſaz,
nach welchem Urtheilsverfaſſer ſprachen, die
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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/95>, abgerufen am 27.11.2024.
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