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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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nicht bekümmern; denn wer alles hat, fragt
nicht weiter, wie viel? -- So auch nach römisch-
katholischen Grundsätzen die kirchliche Verfassung.
Sie ist auf jeden Umstand ausführlich, und
gleichsam aus einem Stücke. Räumet ihr alle
ihre Forderungen ein; so wisset ihr wenigstens,
woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebäude
ist aufgeführt, und in allen Theilen desselben
herrscht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene
fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die
Abends in einer Festung ist, welche des Nachts
mit Sturm übergehen soll. Wer aber Ruhe in
Lehr und Leben für Glückseligkeit hält, findet
sie dennoch nirgend gesicherter, als unter einem
römischkatholischen Despoten; oder weil auch hier
die Macht noch zu sehr vertheilt ist, unter der
despotischen Herrschaft der Kirche selbst.

So bald aber die Freyheit an diesem syste-
matischen Gebäude etwas zu verrücken wagt, so
drohet Zerrüttung von allen Seiten, und man weis
am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben
kann. Daher die ausserordentliche Verwirrung,
die bürgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen
in den ersten Zeiten der Reformation, und die
auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbes-

serer
A 3

nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt
nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch-
katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung.
Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und
gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle
ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens,
woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude
iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben
herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene
fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die
Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts
mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in
Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet
ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem
roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier
die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der
deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt.

So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte-
matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo
drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis
am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben
kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung,
die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen
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[5/0011] nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch- katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung. Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt. So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte- matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung, die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen in den erſten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbeſ- ſerer A 3

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/11>, abgerufen am 03.05.2024.