Zu den Wahrheiten der zwoten Classe wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wissen, welche Gesetze der Schöpfer seiner Schöpfung vorrgeschieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Verände- rungen in derselben vorgehen: so müssen wir einzelne Fälle erfahren, beobachten, versuchen, das heißt, zuvörderst die Evidenz der Sinne brauchen und hernach durch die Vernunft, aus mehrern besondern Fällen dasjenige herausbrin- gen, was sie gemein haben. Hier werden wir zwar manches schon auf Glauben und Ansehen von andern annehmen müssen. Unsere Lebens- zeit reicht nicht hin, alles selbst zu erfahren, und wir müssen in vielen Fällen uns auf glaub- hafte Nebenmenschen verlassen: die Beobach- tungen und Versuche, die sie angestellt zu ha- ben vorgeben, als wahr voraussetzen. Wir trauen ihnen aber nur, in so weit wir wissen, und überführt sind, daß die Gegenstände noch immer vorhanden sind, und die Versuche und Beobachtungen von uns oder von andern, die Gelegenheit und Fähigkeit dazu haben, wieder- holt und geprüft werden können. Ja, wenn
das
Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde- rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen, das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne brauchen und hernach durch die Vernunft, aus mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin- gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens- zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren, und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub- hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach- tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha- ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen, und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch immer vorhanden ſind, und die Verſuche und Beobachtungen von uns oder von andern, die Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder- holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn
das
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0138"n="36"/><p>Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird,<lb/>
außer der Vernunft, auch noch <hirendition="#fr">Beobachtung</hi><lb/>
erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze<lb/>
der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben,<lb/>
nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde-<lb/>
rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir<lb/>
einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen,<lb/>
das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne<lb/>
brauchen und hernach durch die Vernunft, aus<lb/>
mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin-<lb/>
gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir<lb/>
zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen<lb/>
von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens-<lb/>
zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren,<lb/>
und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub-<lb/>
hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach-<lb/>
tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha-<lb/>
ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir<lb/>
trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen,<lb/>
und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch<lb/>
immer vorhanden ſind, und die Verſuche und<lb/>
Beobachtungen von uns oder von andern, die<lb/>
Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder-<lb/>
holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn<lb/><fwplace="bottom"type="catch">das</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[36/0138]
Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird,
außer der Vernunft, auch noch Beobachtung
erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze
der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben,
nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde-
rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir
einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen,
das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne
brauchen und hernach durch die Vernunft, aus
mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin-
gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir
zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen
von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens-
zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren,
und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub-
hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach-
tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha-
ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir
trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen,
und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch
immer vorhanden ſind, und die Verſuche und
Beobachtungen von uns oder von andern, die
Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder-
holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn
das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/138>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.