zu erhalten. Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabethische Schreiberey macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Er- kenntniß der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehr und Leben eine gar zu wei- te Trennung. Diesen Mängeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonial- gesetz. Mit dem alltäglichen Thun und Lassen der Menschen sollten religiose und sittliche Er- kenntnisse verbunden seyn. Das Gesetz trieb sie zwar nicht zum Nachdenken an, schrieb ihnen blos Handlungen, blos Thun und Lassen vor. Die große Maxime dieser Vexfassung scheinet gewesen zu seyn: Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachden- ken nur veranlasset werden. Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Ge- brauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Er- kenntniß der Religion und der Sittenlehre in ge- nauer Verbindung, stand, und dem Warheits-
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zu erhalten. Bilder und Bilderſchrift fuͤhren zu Aberglauben und Goͤtzendienſt, und unſere alphabethiſche Schreiberey macht den Menſchen zu ſpekulativ. Sie legt die ſymboliſche Er- kenntniß der Dinge und ihrer Verhaͤltniſſe gar zu offen auf der Oberflaͤche aus, uͤberhebt uns der Muͤhe des Eindringens und Forſchens, und macht zwiſchen Lehr und Leben eine gar zu wei- te Trennung. Dieſen Maͤngeln abzuhelfen, gab der Geſetzgeber dieſer Nation das Zeremonial- geſetz. Mit dem alltaͤglichen Thun und Laſſen der Menſchen ſollten religioſe und ſittliche Er- kenntniſſe verbunden ſeyn. Das Geſetz trieb ſie zwar nicht zum Nachdenken an, ſchrieb ihnen blos Handlungen, blos Thun und Laſſen vor. Die große Maxime dieſer Vexfaſſung ſcheinet geweſen zu ſeyn: Die Menſchen muͤſſen zu Handlungen getrieben und zum Nachden- ken nur veranlaſſet werden. Daher jede dieſer vorgeſchriebenen Handlungen, jeder Ge- brauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der ſpekulativen Er- kenntniß der Religion und der Sittenlehre in ge- nauer Verbindung, ſtand, und dem Warheits-
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zu erhalten. Bilder und Bilderſchrift fuͤhren
zu Aberglauben und Goͤtzendienſt, und unſere
alphabethiſche Schreiberey macht den Menſchen
zu ſpekulativ. Sie legt die ſymboliſche Er-
kenntniß der Dinge und ihrer Verhaͤltniſſe gar
zu offen auf der Oberflaͤche aus, uͤberhebt uns
der Muͤhe des Eindringens und Forſchens, und
macht zwiſchen Lehr und Leben eine gar zu wei-
te Trennung. Dieſen Maͤngeln abzuhelfen, gab
der Geſetzgeber dieſer Nation das Zeremonial-
geſetz. Mit dem alltaͤglichen Thun und Laſſen
der Menſchen ſollten religioſe und ſittliche Er-
kenntniſſe verbunden ſeyn. Das Geſetz trieb ſie
zwar nicht zum Nachdenken an, ſchrieb ihnen
blos Handlungen, blos Thun und Laſſen vor.
Die große Maxime dieſer Vexfaſſung ſcheinet
geweſen zu ſeyn: Die Menſchen muͤſſen zu
Handlungen getrieben und zum Nachden-
ken nur veranlaſſet werden. Daher jede
dieſer vorgeſchriebenen Handlungen, jeder Ge-
brauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/197>, abgerufen am 16.02.2025.
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