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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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Sinnesänderung nicht mehr unentbehrlich ist,
bin ich, ohne Offenbarung, so gewiß als von
meinem eigenen Daseyn überführet, daß mein
Vater mir die Strafe erlassen werde. -- Und
im Gegenfalle: wenn diese Strafe zu meiner
moralischen Besserung noch nützlich ist, wünsche
ich auf keine Weise davon befreyet zu werden.
In dem Staate dieses väterlichen Regenten lei-
det der Uebertreter keine andere Strafe, als die
er selbst zu leiden wünschen muß, wenn er die
Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren
Lichte sehen könnte.

"Kann aber, versetzte mein Freund, kann
"Gott nicht gut finden, den Menschen andern zum
"Beyspiele leiden zu lassen, und ist die Befrey-
"ung von dieser exemplarischen Strafe nicht
"wünschenswerth?"

"Nein, erwiderte ich: In dem Staate Got-
"tes leidet kein Individuum blos andern zum
"Besten. Wenn dieses geschehen soll: so muß
diese Aufopferung zum Besten andrer dem Lei-
denden selbst einen höhern sittlichen Werth ge-
ben; so muß es in Absicht auf den innern Zu-
wachs seiner Vollkommenheit, ihm selbst wich-

tig

Sinnesaͤnderung nicht mehr unentbehrlich iſt,
bin ich, ohne Offenbarung, ſo gewiß als von
meinem eigenen Daſeyn uͤberfuͤhret, daß mein
Vater mir die Strafe erlaſſen werde. — Und
im Gegenfalle: wenn dieſe Strafe zu meiner
moraliſchen Beſſerung noch nuͤtzlich iſt, wuͤnſche
ich auf keine Weiſe davon befreyet zu werden.
In dem Staate dieſes vaͤterlichen Regenten lei-
det der Uebertreter keine andere Strafe, als die
er ſelbſt zu leiden wuͤnſchen muß, wenn er die
Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren
Lichte ſehen koͤnnte.

„Kann aber, verſetzte mein Freund, kann
„Gott nicht gut finden, den Menſchen andern zum
„Beyſpiele leiden zu laſſen, und iſt die Befrey-
„ung von dieſer exemplariſchen Strafe nicht
„wuͤnſchenswerth?“

„Nein, erwiderte ich: In dem Staate Got-
„tes leidet kein Individuum blos andern zum
„Beſten. Wenn dieſes geſchehen ſoll: ſo muß
dieſe Aufopferung zum Beſten andrer dem Lei-
denden ſelbſt einen hoͤhern ſittlichen Werth ge-
ben; ſo muß es in Abſicht auf den innern Zu-
wachs ſeiner Vollkommenheit, ihm ſelbſt wich-

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[108/0210] Sinnesaͤnderung nicht mehr unentbehrlich iſt, bin ich, ohne Offenbarung, ſo gewiß als von meinem eigenen Daſeyn uͤberfuͤhret, daß mein Vater mir die Strafe erlaſſen werde. — Und im Gegenfalle: wenn dieſe Strafe zu meiner moraliſchen Beſſerung noch nuͤtzlich iſt, wuͤnſche ich auf keine Weiſe davon befreyet zu werden. In dem Staate dieſes vaͤterlichen Regenten lei- det der Uebertreter keine andere Strafe, als die er ſelbſt zu leiden wuͤnſchen muß, wenn er die Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren Lichte ſehen koͤnnte. „Kann aber, verſetzte mein Freund, kann „Gott nicht gut finden, den Menſchen andern zum „Beyſpiele leiden zu laſſen, und iſt die Befrey- „ung von dieſer exemplariſchen Strafe nicht „wuͤnſchenswerth?“ „Nein, erwiderte ich: In dem Staate Got- „tes leidet kein Individuum blos andern zum „Beſten. Wenn dieſes geſchehen ſoll: ſo muß dieſe Aufopferung zum Beſten andrer dem Lei- denden ſelbſt einen hoͤhern ſittlichen Werth ge- ben; ſo muß es in Abſicht auf den innern Zu- wachs ſeiner Vollkommenheit, ihm ſelbſt wich- tig

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/210>, abgerufen am 24.11.2024.