Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Gewissen zu befreyen, und sich von dem Joche
des Gesetzes zu entledigen glauben kann? Jesus
von Nazareth hat sich nie verlauten lassen, daß
er gekommen sey, das Haus Jakob von dem
Gesetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit
ausdrücklichen Worten das Gegentheil gesagt;
und was noch mehr ist, hat selbst das Gegen-
theil gethan. Jesus von Nazareth hat selbst
nicht nur das Gesetz Moses; sondern auch die
Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was
in den von ihm aufgezeichneten Reden und
Handlungen dem zuwider zu seyn scheinet, hat
doch in der That nur dem ersten Anblicke nach,
diesen Schein. Genau untersuchet, stimmet
alles nicht nur mit der Schrift, sondern auch
mit der Ueberlieferung völlig überein. Wenn
er gekommen ist, der eingerissenen Heucheley
und Scheinheiligkeit zu steuern; so wird er sicher-
lich nicht das erste Beyspiel zur Scheinheiligkeit
gegeben, und ein Gesetz durch Beyspiel autori-
sirt haben, das abgestellt und aufgehoben seyn
sollte. Aus seinem ganzen Betragen, so wie
aus dem Betragen seiner Jünger in der ersten
Zeit, leuchtet vielmehr der rabbinische Grund-

satz

Gewiſſen zu befreyen, und ſich von dem Joche
des Geſetzes zu entledigen glauben kann? Jeſus
von Nazareth hat ſich nie verlauten laſſen, daß
er gekommen ſey, das Haus Jakob von dem
Geſetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit
ausdruͤcklichen Worten das Gegentheil geſagt;
und was noch mehr iſt, hat ſelbſt das Gegen-
theil gethan. Jeſus von Nazareth hat ſelbſt
nicht nur das Geſetz Moſes; ſondern auch die
Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was
in den von ihm aufgezeichneten Reden und
Handlungen dem zuwider zu ſeyn ſcheinet, hat
doch in der That nur dem erſten Anblicke nach,
dieſen Schein. Genau unterſuchet, ſtimmet
alles nicht nur mit der Schrift, ſondern auch
mit der Ueberlieferung voͤllig uͤberein. Wenn
er gekommen iſt, der eingeriſſenen Heucheley
und Scheinheiligkeit zu ſteuern; ſo wird er ſicher-
lich nicht das erſte Beyſpiel zur Scheinheiligkeit
gegeben, und ein Geſetz durch Beyſpiel autori-
ſirt haben, das abgeſtellt und aufgehoben ſeyn
ſollte. Aus ſeinem ganzen Betragen, ſo wie
aus dem Betragen ſeiner Juͤnger in der erſten
Zeit, leuchtet vielmehr der rabbiniſche Grund-

ſatz
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0232" n="130"/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en zu befreyen, und &#x017F;ich von dem Joche<lb/>
des Ge&#x017F;etzes zu entledigen glauben kann? Je&#x017F;us<lb/>
von Nazareth hat &#x017F;ich nie verlauten la&#x017F;&#x017F;en, daß<lb/>
er gekommen &#x017F;ey, das Haus Jakob von dem<lb/>
Ge&#x017F;etze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit<lb/>
ausdru&#x0364;cklichen Worten das Gegentheil ge&#x017F;agt;<lb/>
und was noch mehr i&#x017F;t, hat &#x017F;elb&#x017F;t das Gegen-<lb/>
theil gethan. Je&#x017F;us von Nazareth hat &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
nicht nur das Ge&#x017F;etz Mo&#x017F;es; &#x017F;ondern auch die<lb/>
Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was<lb/>
in den von ihm aufgezeichneten Reden und<lb/>
Handlungen dem zuwider zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinet, hat<lb/>
doch in der That nur dem er&#x017F;ten Anblicke nach,<lb/>
die&#x017F;en Schein. Genau unter&#x017F;uchet, &#x017F;timmet<lb/>
alles nicht nur mit der Schrift, &#x017F;ondern auch<lb/>
mit der Ueberlieferung vo&#x0364;llig u&#x0364;berein. Wenn<lb/>
er gekommen i&#x017F;t, der eingeri&#x017F;&#x017F;enen Heucheley<lb/>
und Scheinheiligkeit zu &#x017F;teuern; &#x017F;o wird er &#x017F;icher-<lb/>
lich nicht das er&#x017F;te Bey&#x017F;piel zur Scheinheiligkeit<lb/>
gegeben, und ein Ge&#x017F;etz durch Bey&#x017F;piel autori-<lb/>
&#x017F;irt haben, das abge&#x017F;tellt und aufgehoben &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;ollte. Aus &#x017F;einem ganzen Betragen, &#x017F;o wie<lb/>
aus dem Betragen &#x017F;einer Ju&#x0364;nger in der er&#x017F;ten<lb/>
Zeit, leuchtet vielmehr der rabbini&#x017F;che Grund-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;atz</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0232] Gewiſſen zu befreyen, und ſich von dem Joche des Geſetzes zu entledigen glauben kann? Jeſus von Nazareth hat ſich nie verlauten laſſen, daß er gekommen ſey, das Haus Jakob von dem Geſetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit ausdruͤcklichen Worten das Gegentheil geſagt; und was noch mehr iſt, hat ſelbſt das Gegen- theil gethan. Jeſus von Nazareth hat ſelbſt nicht nur das Geſetz Moſes; ſondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu ſeyn ſcheinet, hat doch in der That nur dem erſten Anblicke nach, dieſen Schein. Genau unterſuchet, ſtimmet alles nicht nur mit der Schrift, ſondern auch mit der Ueberlieferung voͤllig uͤberein. Wenn er gekommen iſt, der eingeriſſenen Heucheley und Scheinheiligkeit zu ſteuern; ſo wird er ſicher- lich nicht das erſte Beyſpiel zur Scheinheiligkeit gegeben, und ein Geſetz durch Beyſpiel autori- ſirt haben, das abgeſtellt und aufgehoben ſeyn ſollte. Aus ſeinem ganzen Betragen, ſo wie aus dem Betragen ſeiner Juͤnger in der erſten Zeit, leuchtet vielmehr der rabbiniſche Grund- ſatz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/232
Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/232>, abgerufen am 24.11.2024.