Gesetze können wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nützet euch Mitbürger ohne Gewissen?
"Wie kann aber auf diese Weise die Pro- "phezeyung in Erfüllung kommen, daß dereinst "nur ein Hirt und eine Heerde seyn soll?"
Lieben Brüder! die ihr es mit den Men- schen wohlmeinet, lasset euch nicht bethören! Um dieses allgegenwärtigen Hirten zu seyn, braucht weder die ganze Heerde auf Einer Flur zu weiden, noch durch Eine Thür in des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieses ist weder dem Wunsch des Hirten gemäß, noch dem Gedeien der Heerde zuträglich. Ob man die Begriffe vertauscht, oder geflissentlich zu ver- wirren sucht? Man stellet euch vor, Glaubens- vereinigung sey der nächste Weg zur Bru- derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi- gen so sehnlich wünschet. Wenn wir alle nur Einen Glauben haben, wollen verschiedene euch einbilden; so können wir uns einander des Glau- bens, der Verschiedenheit der Meinungen hal- ber, nicht mehr hassen; so ist Religionshaß
und
J 3
Geſetze koͤnnen wir mit gutem Gewiſſen nicht weichen, und was nuͤtzet euch Mitbuͤrger ohne Gewiſſen?
„Wie kann aber auf dieſe Weiſe die Pro- „phezeyung in Erfuͤllung kommen, daß dereinſt „nur ein Hirt und eine Heerde ſeyn ſoll?“
Lieben Bruͤder! die ihr es mit den Men- ſchen wohlmeinet, laſſet euch nicht bethoͤren! Um dieſes allgegenwaͤrtigen Hirten zu ſeyn, braucht weder die ganze Heerde auf Einer Flur zu weiden, noch durch Eine Thuͤr in des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieſes iſt weder dem Wunſch des Hirten gemaͤß, noch dem Gedeien der Heerde zutraͤglich. Ob man die Begriffe vertauſcht, oder gefliſſentlich zu ver- wirren ſucht? Man ſtellet euch vor, Glaubens- vereinigung ſey der naͤchſte Weg zur Bru- derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi- gen ſo ſehnlich wuͤnſchet. Wenn wir alle nur Einen Glauben haben, wollen verſchiedene euch einbilden; ſo koͤnnen wir uns einander des Glau- bens, der Verſchiedenheit der Meinungen hal- ber, nicht mehr haſſen; ſo iſt Religionshaß
und
J 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0235"n="133"/>
Geſetze koͤnnen wir mit gutem Gewiſſen nicht<lb/>
weichen, und was nuͤtzet euch Mitbuͤrger<lb/>
ohne Gewiſſen?</p><lb/><p>„Wie kann aber auf dieſe Weiſe die Pro-<lb/>„phezeyung in Erfuͤllung kommen, daß dereinſt<lb/>„nur ein <hirendition="#fr">Hirt und eine Heerde</hi>ſeyn ſoll?“</p><lb/><p>Lieben Bruͤder! die ihr es mit den Men-<lb/>ſchen wohlmeinet, laſſet euch nicht bethoͤren!<lb/>
Um dieſes allgegenwaͤrtigen Hirten zu ſeyn,<lb/>
braucht weder die ganze Heerde auf Einer<lb/>
Flur zu weiden, noch durch Eine Thuͤr in<lb/>
des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieſes<lb/>
iſt weder dem Wunſch des Hirten gemaͤß, noch<lb/>
dem Gedeien der Heerde zutraͤglich. Ob man<lb/>
die Begriffe vertauſcht, oder gefliſſentlich zu ver-<lb/>
wirren ſucht? Man ſtellet euch vor, Glaubens-<lb/>
vereinigung ſey der naͤchſte Weg zur Bru-<lb/>
derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi-<lb/>
gen ſo ſehnlich wuͤnſchet. Wenn wir alle nur<lb/>
Einen Glauben haben, wollen verſchiedene euch<lb/>
einbilden; ſo koͤnnen wir uns einander des Glau-<lb/>
bens, der Verſchiedenheit der Meinungen hal-<lb/>
ber, nicht mehr haſſen; ſo iſt Religionshaß<lb/><fwplace="bottom"type="sig">J 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[133/0235]
Geſetze koͤnnen wir mit gutem Gewiſſen nicht
weichen, und was nuͤtzet euch Mitbuͤrger
ohne Gewiſſen?
„Wie kann aber auf dieſe Weiſe die Pro-
„phezeyung in Erfuͤllung kommen, daß dereinſt
„nur ein Hirt und eine Heerde ſeyn ſoll?“
Lieben Bruͤder! die ihr es mit den Men-
ſchen wohlmeinet, laſſet euch nicht bethoͤren!
Um dieſes allgegenwaͤrtigen Hirten zu ſeyn,
braucht weder die ganze Heerde auf Einer
Flur zu weiden, noch durch Eine Thuͤr in
des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieſes
iſt weder dem Wunſch des Hirten gemaͤß, noch
dem Gedeien der Heerde zutraͤglich. Ob man
die Begriffe vertauſcht, oder gefliſſentlich zu ver-
wirren ſucht? Man ſtellet euch vor, Glaubens-
vereinigung ſey der naͤchſte Weg zur Bru-
derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi-
gen ſo ſehnlich wuͤnſchet. Wenn wir alle nur
Einen Glauben haben, wollen verſchiedene euch
einbilden; ſo koͤnnen wir uns einander des Glau-
bens, der Verſchiedenheit der Meinungen hal-
ber, nicht mehr haſſen; ſo iſt Religionshaß
und
J 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/235>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.