Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Hierarchie gestrebt, aber der weltliche Arm hat sie
niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will,
daß sie dem Zeitgeist mit Überzeugung nachgegeben
haben, so muß man doch wenigstens eingestehn, sie
haben aus der Noth eine Tugend gemacht.

Betrachten wir die positiven Doctrinen, die Re¬
sultate der theologischen Kritik, wie sie von den ersten
Reformatoren festgestellt worden sind, doch mannig¬
faltigen Modificationen Raum gewährt haben, so
lassen sich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬
rückführen. Es gibt eine orthodoxe Partei, sowohl
unter Reformirten, als Lutheranern, die sich streng
an die symbolischen Bücher hält, deren Glaube auf
den Buchstaben gegründet ist. Es gibt sodann eine
kritische Partei, die in der Exegese die höchste Frei¬
heit des Scharfsinns und der Urtheilskraft geltend
macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die
Logik gründet, daher ihr rüstiger Vorkämpfer, Paulus
in Heidelberg, sie mit dem neuen, aber treffenden
Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬
tei endlich hält sich rein an die Bibel, abgesehen so¬
wohl von den symbolischen Büchern, als von der
Kritik, und ersetzt die Auslegung durch Gefühle, die
sie schon wieder auf eine mystische Weise durch das
bloße Wort erregt fühlt. Wo Phantasie und Sinn¬
lichkeit mit ins Spiel kommen, streift diese Partei
nicht selten ins katholische Gebiet hinüber, wo nur
vorherrschende Gemüthskraft, Sehnen nach Andacht,
Liebe, Zerknirschung und Buße waltet, in den Pie¬

Deutsche Literatur. I. 6

Hierarchie geſtrebt, aber der weltliche Arm hat ſie
niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will,
daß ſie dem Zeitgeiſt mit Überzeugung nachgegeben
haben, ſo muß man doch wenigſtens eingeſtehn, ſie
haben aus der Noth eine Tugend gemacht.

Betrachten wir die poſitiven Doctrinen, die Re¬
ſultate der theologiſchen Kritik, wie ſie von den erſten
Reformatoren feſtgeſtellt worden ſind, doch mannig¬
faltigen Modificationen Raum gewaͤhrt haben, ſo
laſſen ſich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬
ruͤckfuͤhren. Es gibt eine orthodoxe Partei, ſowohl
unter Reformirten, als Lutheranern, die ſich ſtreng
an die ſymboliſchen Buͤcher haͤlt, deren Glaube auf
den Buchſtaben gegruͤndet iſt. Es gibt ſodann eine
kritiſche Partei, die in der Exegeſe die hoͤchſte Frei¬
heit des Scharfſinns und der Urtheilskraft geltend
macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die
Logik gruͤndet, daher ihr ruͤſtiger Vorkaͤmpfer, Paulus
in Heidelberg, ſie mit dem neuen, aber treffenden
Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬
tei endlich haͤlt ſich rein an die Bibel, abgeſehen ſo¬
wohl von den ſymboliſchen Buͤchern, als von der
Kritik, und erſetzt die Auslegung durch Gefuͤhle, die
ſie ſchon wieder auf eine myſtiſche Weiſe durch das
bloße Wort erregt fuͤhlt. Wo Phantaſie und Sinn¬
lichkeit mit ins Spiel kommen, ſtreift dieſe Partei
nicht ſelten ins katholiſche Gebiet hinuͤber, wo nur
vorherrſchende Gemuͤthskraft, Sehnen nach Andacht,
Liebe, Zerknirſchung und Buße waltet, in den Pie¬

Deutſche Literatur. I. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0131" n="121"/>
Hierarchie ge&#x017F;trebt, aber der weltliche Arm hat &#x017F;ie<lb/>
niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will,<lb/>
daß &#x017F;ie dem Zeitgei&#x017F;t mit Überzeugung nachgegeben<lb/>
haben, &#x017F;o muß man doch wenig&#x017F;tens einge&#x017F;tehn, &#x017F;ie<lb/>
haben aus der Noth eine Tugend gemacht.</p><lb/>
        <p>Betrachten wir die po&#x017F;itiven Doctrinen, die Re¬<lb/>
&#x017F;ultate der theologi&#x017F;chen Kritik, wie &#x017F;ie von den er&#x017F;ten<lb/>
Reformatoren fe&#x017F;tge&#x017F;tellt worden &#x017F;ind, doch mannig¬<lb/>
faltigen Modificationen Raum gewa&#x0364;hrt haben, &#x017F;o<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬<lb/>
ru&#x0364;ckfu&#x0364;hren. Es gibt eine orthodoxe Partei, &#x017F;owohl<lb/>
unter Reformirten, als Lutheranern, die &#x017F;ich &#x017F;treng<lb/>
an die &#x017F;ymboli&#x017F;chen Bu&#x0364;cher ha&#x0364;lt, deren Glaube auf<lb/>
den Buch&#x017F;taben gegru&#x0364;ndet i&#x017F;t. Es gibt &#x017F;odann eine<lb/>
kriti&#x017F;che Partei, die in der Exege&#x017F;e die ho&#x0364;ch&#x017F;te Frei¬<lb/>
heit des Scharf&#x017F;inns und der Urtheilskraft geltend<lb/>
macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die<lb/>
Logik gru&#x0364;ndet, daher ihr ru&#x0364;&#x017F;tiger Vorka&#x0364;mpfer, Paulus<lb/>
in Heidelberg, &#x017F;ie mit dem neuen, aber treffenden<lb/>
Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬<lb/>
tei endlich ha&#x0364;lt &#x017F;ich rein an die Bibel, abge&#x017F;ehen &#x017F;<lb/>
wohl von den &#x017F;ymboli&#x017F;chen Bu&#x0364;chern, als von der<lb/>
Kritik, und er&#x017F;etzt die Auslegung durch Gefu&#x0364;hle, die<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chon wieder auf eine my&#x017F;ti&#x017F;che Wei&#x017F;e durch das<lb/>
bloße Wort erregt fu&#x0364;hlt. Wo Phanta&#x017F;ie und Sinn¬<lb/>
lichkeit mit ins Spiel kommen, &#x017F;treift die&#x017F;e Partei<lb/>
nicht &#x017F;elten ins katholi&#x017F;che Gebiet hinu&#x0364;ber, wo nur<lb/>
vorherr&#x017F;chende Gemu&#x0364;thskraft, Sehnen nach Andacht,<lb/>
Liebe, Zerknir&#x017F;chung und Buße waltet, in den Pie¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Deut&#x017F;che Literatur. <hi rendition="#aq">I</hi>. 6<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0131] Hierarchie geſtrebt, aber der weltliche Arm hat ſie niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will, daß ſie dem Zeitgeiſt mit Überzeugung nachgegeben haben, ſo muß man doch wenigſtens eingeſtehn, ſie haben aus der Noth eine Tugend gemacht. Betrachten wir die poſitiven Doctrinen, die Re¬ ſultate der theologiſchen Kritik, wie ſie von den erſten Reformatoren feſtgeſtellt worden ſind, doch mannig¬ faltigen Modificationen Raum gewaͤhrt haben, ſo laſſen ſich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬ ruͤckfuͤhren. Es gibt eine orthodoxe Partei, ſowohl unter Reformirten, als Lutheranern, die ſich ſtreng an die ſymboliſchen Buͤcher haͤlt, deren Glaube auf den Buchſtaben gegruͤndet iſt. Es gibt ſodann eine kritiſche Partei, die in der Exegeſe die hoͤchſte Frei¬ heit des Scharfſinns und der Urtheilskraft geltend macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die Logik gruͤndet, daher ihr ruͤſtiger Vorkaͤmpfer, Paulus in Heidelberg, ſie mit dem neuen, aber treffenden Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬ tei endlich haͤlt ſich rein an die Bibel, abgeſehen ſo¬ wohl von den ſymboliſchen Buͤchern, als von der Kritik, und erſetzt die Auslegung durch Gefuͤhle, die ſie ſchon wieder auf eine myſtiſche Weiſe durch das bloße Wort erregt fuͤhlt. Wo Phantaſie und Sinn¬ lichkeit mit ins Spiel kommen, ſtreift dieſe Partei nicht ſelten ins katholiſche Gebiet hinuͤber, wo nur vorherrſchende Gemuͤthskraft, Sehnen nach Andacht, Liebe, Zerknirſchung und Buße waltet, in den Pie¬ Deutſche Literatur. I. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/131
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/131>, abgerufen am 25.11.2024.