Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit.
In der Theologie folgte der starren Orthodoxie eine
bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬
losophie wurde das mathematische Verfahren durch
das anthropologische ersetzt, das allen Hypothesen
freien Spielraum gab. In der Staatswissenschaft
herrschte anfangs die abgeschmackte heilige römische
Reichsunbehülflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬
rungen. In den Naturwissenschaften ward die Em¬
pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬
sen ersetzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den
vagesten Versuchen der Philantropisten weichen. End¬
lich sah die sogenannte classische Poesie durch alle
Ausschweifungen der Romantik und des modernen Hu¬
mors sich verdrängt. So folgten auch im historischen
Fach auf die weitschichtigen Sammlungen der Män¬
ner in Allongeperücken die kritischen Bedenken der
Männer in Zöpfen, und nachdem das siebzehnte Jahr¬
hundert den Geist der Geschichte unter endlosen Cita¬
ten und chronologisch-genealogischen Tabellen begra¬
ben, konnte das achtzehnte ihn dreist läugnen. Man
gefiel sich in einem frevelhaften Unglauben und im
Vernichten dessen, was der Einseitigkeit des Geschlechts
nicht zusagte. Während die Philosophen dem Chri¬
stenthum absagten und die Revolutionsmänner auf den
Trümmern der Cultur und Geschichte einen neuen
Naturzustand einzuführen strebten, wurden sie von
den historischen Sceptikern thätig unterstützt, die das
Amt übernahmen, das Feld der Geschichte zu säu¬

todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit.
In der Theologie folgte der ſtarren Orthodoxie eine
bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬
loſophie wurde das mathematiſche Verfahren durch
das anthropologiſche erſetzt, das allen Hypotheſen
freien Spielraum gab. In der Staatswiſſenſchaft
herrſchte anfangs die abgeſchmackte heilige roͤmiſche
Reichsunbehuͤlflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬
rungen. In den Naturwiſſenſchaften ward die Em¬
pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬
ſen erſetzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den
vageſten Verſuchen der Philantropiſten weichen. End¬
lich ſah die ſogenannte claſſiſche Poeſie durch alle
Ausſchweifungen der Romantik und des modernen Hu¬
mors ſich verdraͤngt. So folgten auch im hiſtoriſchen
Fach auf die weitſchichtigen Sammlungen der Maͤn¬
ner in Allongeperuͤcken die kritiſchen Bedenken der
Maͤnner in Zoͤpfen, und nachdem das ſiebzehnte Jahr¬
hundert den Geiſt der Geſchichte unter endloſen Cita¬
ten und chronologiſch-genealogiſchen Tabellen begra¬
ben, konnte das achtzehnte ihn dreiſt laͤugnen. Man
gefiel ſich in einem frevelhaften Unglauben und im
Vernichten deſſen, was der Einſeitigkeit des Geſchlechts
nicht zuſagte. Waͤhrend die Philoſophen dem Chri¬
ſtenthum abſagten und die Revolutionsmaͤnner auf den
Truͤmmern der Cultur und Geſchichte einen neuen
Naturzuſtand einzufuͤhren ſtrebten, wurden ſie von
den hiſtoriſchen Sceptikern thaͤtig unterſtuͤtzt, die das
Amt uͤbernahmen, das Feld der Geſchichte zu ſaͤu¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0217" n="207"/>
todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit.<lb/>
In der Theologie folgte der &#x017F;tarren Orthodoxie eine<lb/>
bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬<lb/>
lo&#x017F;ophie wurde das mathemati&#x017F;che Verfahren durch<lb/>
das anthropologi&#x017F;che er&#x017F;etzt, das allen Hypothe&#x017F;en<lb/>
freien Spielraum gab. In der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
herr&#x017F;chte anfangs die abge&#x017F;chmackte heilige ro&#x0364;mi&#x017F;che<lb/>
Reichsunbehu&#x0364;lflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬<lb/>
rungen. In den Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften ward die Em¬<lb/>
pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬<lb/>
&#x017F;en er&#x017F;etzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den<lb/>
vage&#x017F;ten Ver&#x017F;uchen der Philantropi&#x017F;ten weichen. End¬<lb/>
lich &#x017F;ah die &#x017F;ogenannte cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Poe&#x017F;ie durch alle<lb/>
Aus&#x017F;chweifungen der Romantik und des modernen Hu¬<lb/>
mors &#x017F;ich verdra&#x0364;ngt. So folgten auch im hi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
Fach auf die weit&#x017F;chichtigen Sammlungen der Ma&#x0364;<lb/>
ner in Allongeperu&#x0364;cken die kriti&#x017F;chen Bedenken der<lb/>
Ma&#x0364;nner in Zo&#x0364;pfen, und nachdem das &#x017F;iebzehnte Jahr¬<lb/>
hundert den Gei&#x017F;t der Ge&#x017F;chichte unter endlo&#x017F;en Cita¬<lb/>
ten und chronologi&#x017F;ch-genealogi&#x017F;chen Tabellen begra¬<lb/>
ben, konnte das achtzehnte ihn drei&#x017F;t la&#x0364;ugnen. Man<lb/>
gefiel &#x017F;ich in einem frevelhaften Unglauben und im<lb/>
Vernichten de&#x017F;&#x017F;en, was der Ein&#x017F;eitigkeit des Ge&#x017F;chlechts<lb/>
nicht zu&#x017F;agte. Wa&#x0364;hrend die Philo&#x017F;ophen dem Chri¬<lb/>
&#x017F;tenthum ab&#x017F;agten und die Revolutionsma&#x0364;nner auf den<lb/>
Tru&#x0364;mmern der Cultur und Ge&#x017F;chichte einen neuen<lb/>
Naturzu&#x017F;tand einzufu&#x0364;hren &#x017F;trebten, wurden &#x017F;ie von<lb/>
den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Sceptikern tha&#x0364;tig unter&#x017F;tu&#x0364;tzt, die das<lb/>
Amt u&#x0364;bernahmen, das Feld der Ge&#x017F;chichte zu &#x017F;a&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0217] todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit. In der Theologie folgte der ſtarren Orthodoxie eine bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬ loſophie wurde das mathematiſche Verfahren durch das anthropologiſche erſetzt, das allen Hypotheſen freien Spielraum gab. In der Staatswiſſenſchaft herrſchte anfangs die abgeſchmackte heilige roͤmiſche Reichsunbehuͤlflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬ rungen. In den Naturwiſſenſchaften ward die Em¬ pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬ ſen erſetzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den vageſten Verſuchen der Philantropiſten weichen. End¬ lich ſah die ſogenannte claſſiſche Poeſie durch alle Ausſchweifungen der Romantik und des modernen Hu¬ mors ſich verdraͤngt. So folgten auch im hiſtoriſchen Fach auf die weitſchichtigen Sammlungen der Maͤn¬ ner in Allongeperuͤcken die kritiſchen Bedenken der Maͤnner in Zoͤpfen, und nachdem das ſiebzehnte Jahr¬ hundert den Geiſt der Geſchichte unter endloſen Cita¬ ten und chronologiſch-genealogiſchen Tabellen begra¬ ben, konnte das achtzehnte ihn dreiſt laͤugnen. Man gefiel ſich in einem frevelhaften Unglauben und im Vernichten deſſen, was der Einſeitigkeit des Geſchlechts nicht zuſagte. Waͤhrend die Philoſophen dem Chri¬ ſtenthum abſagten und die Revolutionsmaͤnner auf den Truͤmmern der Cultur und Geſchichte einen neuen Naturzuſtand einzufuͤhren ſtrebten, wurden ſie von den hiſtoriſchen Sceptikern thaͤtig unterſtuͤtzt, die das Amt uͤbernahmen, das Feld der Geſchichte zu ſaͤu¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/217
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/217>, abgerufen am 18.05.2024.