Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬
kommene Realisirung derselben unter.

Der erste Blick in die Geschichte des Christen¬
thums belehrt uns, daß es in den frühern Jahrhun¬
derten mehr den Verstand im Gegensatz gegen die
heidnische Philosophie, und das Gefühl im Gegen¬
satz gegen den sinnlichen Götzendienst der Heiden in
Anspruch nahm, daß aber, als das Christenthum den
vollständigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit
sie wieder herabzog, daß die sinnliche Anschauung
des Göttlichen in Wundern, und die sinnliche Anbe¬
tung in einem ceremoniösen Gottesdienst wieder das
Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬
med, im Abendlande durch die Päpste.

Welcher Katholik, welcher dichterische Geist auch
eine sinnliche Offenbarung des Göttlichen zu glauben
sich gedrungen fühlt, wird doch nicht läugnen, daß
die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe
Sinnlichkeit ausgeartet, daß die göttliche Idee unter
der Last sinnlicher Bilder und Zeichen gleichsam er¬
drückt und verschüttet, daß das Wunder gemein ge¬
macht worden ist, und daß die Sinnlichkeit eine
Herrschaft sich angemaßt, unter welcher der denkende
Verstand und das innige Gefühl einen Zwang erlit¬
ten, gegen den sie nothwendig sich empören mußten.
Die herrschende Kirche mißtraute dem Verstand und
die inhumanen Mittel sind bekannt, durch welche sie
denselben zu tödten bemüht war. Sie mißtraute dem
Gefühl und suchte dasselbe durch äußere Werke zu

ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬
kommene Realiſirung derſelben unter.

Der erſte Blick in die Geſchichte des Chriſten¬
thums belehrt uns, daß es in den fruͤhern Jahrhun¬
derten mehr den Verſtand im Gegenſatz gegen die
heidniſche Philoſophie, und das Gefuͤhl im Gegen¬
ſatz gegen den ſinnlichen Goͤtzendienſt der Heiden in
Anſpruch nahm, daß aber, als das Chriſtenthum den
vollſtaͤndigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit
ſie wieder herabzog, daß die ſinnliche Anſchauung
des Goͤttlichen in Wundern, und die ſinnliche Anbe¬
tung in einem ceremonioͤſen Gottesdienſt wieder das
Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬
med, im Abendlande durch die Paͤpſte.

Welcher Katholik, welcher dichteriſche Geiſt auch
eine ſinnliche Offenbarung des Goͤttlichen zu glauben
ſich gedrungen fuͤhlt, wird doch nicht laͤugnen, daß
die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe
Sinnlichkeit ausgeartet, daß die goͤttliche Idee unter
der Laſt ſinnlicher Bilder und Zeichen gleichſam er¬
druͤckt und verſchuͤttet, daß das Wunder gemein ge¬
macht worden iſt, und daß die Sinnlichkeit eine
Herrſchaft ſich angemaßt, unter welcher der denkende
Verſtand und das innige Gefuͤhl einen Zwang erlit¬
ten, gegen den ſie nothwendig ſich empoͤren mußten.
Die herrſchende Kirche mißtraute dem Verſtand und
die inhumanen Mittel ſind bekannt, durch welche ſie
denſelben zu toͤdten bemuͤht war. Sie mißtraute dem
Gefuͤhl und ſuchte daſſelbe durch aͤußere Werke zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0099" n="89"/>
ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬<lb/>
kommene Reali&#x017F;irung der&#x017F;elben unter.</p><lb/>
        <p>Der er&#x017F;te Blick in die Ge&#x017F;chichte des Chri&#x017F;ten¬<lb/>
thums belehrt uns, daß es in den fru&#x0364;hern Jahrhun¬<lb/>
derten mehr den Ver&#x017F;tand im Gegen&#x017F;atz gegen die<lb/>
heidni&#x017F;che Philo&#x017F;ophie, und das Gefu&#x0364;hl im Gegen¬<lb/>
&#x017F;atz gegen den &#x017F;innlichen Go&#x0364;tzendien&#x017F;t der Heiden in<lb/>
An&#x017F;pruch nahm, daß aber, als das Chri&#x017F;tenthum den<lb/>
voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit<lb/>
&#x017F;ie wieder herabzog, daß die &#x017F;innliche An&#x017F;chauung<lb/>
des Go&#x0364;ttlichen in Wundern, und die &#x017F;innliche Anbe¬<lb/>
tung in einem ceremonio&#x0364;&#x017F;en Gottesdien&#x017F;t wieder das<lb/>
Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬<lb/>
med, im Abendlande durch die Pa&#x0364;p&#x017F;te.</p><lb/>
        <p>Welcher Katholik, welcher dichteri&#x017F;che Gei&#x017F;t auch<lb/>
eine &#x017F;innliche Offenbarung des Go&#x0364;ttlichen zu glauben<lb/>
&#x017F;ich gedrungen fu&#x0364;hlt, wird doch nicht la&#x0364;ugnen, daß<lb/>
die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe<lb/>
Sinnlichkeit ausgeartet, daß die go&#x0364;ttliche Idee unter<lb/>
der La&#x017F;t &#x017F;innlicher Bilder und Zeichen gleich&#x017F;am er¬<lb/>
dru&#x0364;ckt und ver&#x017F;chu&#x0364;ttet, daß das Wunder gemein ge¬<lb/>
macht worden i&#x017F;t, und daß die Sinnlichkeit eine<lb/>
Herr&#x017F;chaft &#x017F;ich angemaßt, unter welcher der denkende<lb/>
Ver&#x017F;tand und das innige Gefu&#x0364;hl einen Zwang erlit¬<lb/>
ten, gegen den &#x017F;ie nothwendig &#x017F;ich empo&#x0364;ren mußten.<lb/>
Die herr&#x017F;chende Kirche mißtraute dem Ver&#x017F;tand und<lb/>
die inhumanen Mittel &#x017F;ind bekannt, durch welche &#x017F;ie<lb/>
den&#x017F;elben zu to&#x0364;dten bemu&#x0364;ht war. Sie mißtraute dem<lb/>
Gefu&#x0364;hl und &#x017F;uchte da&#x017F;&#x017F;elbe durch a&#x0364;ußere Werke zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0099] ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬ kommene Realiſirung derſelben unter. Der erſte Blick in die Geſchichte des Chriſten¬ thums belehrt uns, daß es in den fruͤhern Jahrhun¬ derten mehr den Verſtand im Gegenſatz gegen die heidniſche Philoſophie, und das Gefuͤhl im Gegen¬ ſatz gegen den ſinnlichen Goͤtzendienſt der Heiden in Anſpruch nahm, daß aber, als das Chriſtenthum den vollſtaͤndigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit ſie wieder herabzog, daß die ſinnliche Anſchauung des Goͤttlichen in Wundern, und die ſinnliche Anbe¬ tung in einem ceremonioͤſen Gottesdienſt wieder das Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬ med, im Abendlande durch die Paͤpſte. Welcher Katholik, welcher dichteriſche Geiſt auch eine ſinnliche Offenbarung des Goͤttlichen zu glauben ſich gedrungen fuͤhlt, wird doch nicht laͤugnen, daß die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe Sinnlichkeit ausgeartet, daß die goͤttliche Idee unter der Laſt ſinnlicher Bilder und Zeichen gleichſam er¬ druͤckt und verſchuͤttet, daß das Wunder gemein ge¬ macht worden iſt, und daß die Sinnlichkeit eine Herrſchaft ſich angemaßt, unter welcher der denkende Verſtand und das innige Gefuͤhl einen Zwang erlit¬ ten, gegen den ſie nothwendig ſich empoͤren mußten. Die herrſchende Kirche mißtraute dem Verſtand und die inhumanen Mittel ſind bekannt, durch welche ſie denſelben zu toͤdten bemuͤht war. Sie mißtraute dem Gefuͤhl und ſuchte daſſelbe durch aͤußere Werke zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/99
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/99>, abgerufen am 24.11.2024.