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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Söhne des Thals, jene mystischen Alten bilden bald
eine heilige, bald unter einem allerheiligsten Ältesten
ein Inquisitionsgericht, und dieser Alte vom Thal
und Berge kann wie der Großinquisitor in Schillers
Don Carlos von dem Helden der Tragödie jedesmal
sagen:

Sein Leben
Liegt angefangen und beschlossen in
der Santa Casa heiligen Registern.
Die Helden sind von Geburt an zu dem bestimmt,
was sie thun oder leiden müssen. Die einen sind
Sonntagskinder, geborne Engel, die nach einigen
Theaterpossen, nachdem sie wie Tamino durchs Feuer
und Wasser gegangen sind, wohlbehalten in den ih¬
nen längst bestimmten Himmel einziehn. Das Schick¬
sal spielt eine Zeitlang Verstecken mit ihnen, hier
wird dem Auserwählten das geheimnißvolle Thal,
dort die mystische Geliebte verborgen, und zuletzt
wird ihnen die Binde von den Augen genommen.
Der Schüler wird ein Eingeweihter und der Geliebte
findet seine andere Hälfte; wären die beiden Leute
auch noch so weit von einander entfernt, das Schick¬
sal bringt sie zusammen, und sollten sich "der Nord¬
pol zum Südpol beugen" müssen.

Da den Helden auf diese Weise alle Freiheit ge¬
nommen ist, so kann auch diese Art von Poesie nie¬
mals zur tragischen Würde sich erheben, wie große
Mühe Werner sich auch deßfalls gegeben hat. In¬
deß mangelt es seinen Gedichten nicht an religiösem

Soͤhne des Thals, jene myſtiſchen Alten bilden bald
eine heilige, bald unter einem allerheiligſten Älteſten
ein Inquiſitionsgericht, und dieſer Alte vom Thal
und Berge kann wie der Großinquiſitor in Schillers
Don Carlos von dem Helden der Tragoͤdie jedesmal
ſagen:

Sein Leben
Liegt angefangen und beſchloſſen in
der Santa Caſa heiligen Regiſtern.
Die Helden ſind von Geburt an zu dem beſtimmt,
was ſie thun oder leiden muͤſſen. Die einen ſind
Sonntagskinder, geborne Engel, die nach einigen
Theaterpoſſen, nachdem ſie wie Tamino durchs Feuer
und Waſſer gegangen ſind, wohlbehalten in den ih¬
nen laͤngſt beſtimmten Himmel einziehn. Das Schick¬
ſal ſpielt eine Zeitlang Verſtecken mit ihnen, hier
wird dem Auserwaͤhlten das geheimnißvolle Thal,
dort die myſtiſche Geliebte verborgen, und zuletzt
wird ihnen die Binde von den Augen genommen.
Der Schuͤler wird ein Eingeweihter und der Geliebte
findet ſeine andere Haͤlfte; waͤren die beiden Leute
auch noch ſo weit von einander entfernt, das Schick¬
ſal bringt ſie zuſammen, und ſollten ſich «der Nord¬
pol zum Suͤdpol beugen» muͤſſen.

Da den Helden auf dieſe Weiſe alle Freiheit ge¬
nommen iſt, ſo kann auch dieſe Art von Poeſie nie¬
mals zur tragiſchen Wuͤrde ſich erheben, wie große
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deß mangelt es ſeinen Gedichten nicht an religioͤſem

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[104/0114] Soͤhne des Thals, jene myſtiſchen Alten bilden bald eine heilige, bald unter einem allerheiligſten Älteſten ein Inquiſitionsgericht, und dieſer Alte vom Thal und Berge kann wie der Großinquiſitor in Schillers Don Carlos von dem Helden der Tragoͤdie jedesmal ſagen: Sein Leben Liegt angefangen und beſchloſſen in der Santa Caſa heiligen Regiſtern. Die Helden ſind von Geburt an zu dem beſtimmt, was ſie thun oder leiden muͤſſen. Die einen ſind Sonntagskinder, geborne Engel, die nach einigen Theaterpoſſen, nachdem ſie wie Tamino durchs Feuer und Waſſer gegangen ſind, wohlbehalten in den ih¬ nen laͤngſt beſtimmten Himmel einziehn. Das Schick¬ ſal ſpielt eine Zeitlang Verſtecken mit ihnen, hier wird dem Auserwaͤhlten das geheimnißvolle Thal, dort die myſtiſche Geliebte verborgen, und zuletzt wird ihnen die Binde von den Augen genommen. Der Schuͤler wird ein Eingeweihter und der Geliebte findet ſeine andere Haͤlfte; waͤren die beiden Leute auch noch ſo weit von einander entfernt, das Schick¬ ſal bringt ſie zuſammen, und ſollten ſich «der Nord¬ pol zum Suͤdpol beugen» muͤſſen. Da den Helden auf dieſe Weiſe alle Freiheit ge¬ nommen iſt, ſo kann auch dieſe Art von Poeſie nie¬ mals zur tragiſchen Wuͤrde ſich erheben, wie große Muͤhe Werner ſich auch deßfalls gegeben hat. In¬ deß mangelt es ſeinen Gedichten nicht an religioͤſem

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/114>, abgerufen am 26.11.2024.