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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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immer durch alle Phrasen hindurch, und man kann
darauf nur anwenden, was Platon einmal sagt:
"Wir dürfen uns nicht überreden lassen, noch leiden,
daß ein Gott so furchtbare und gottlose Dinge ver¬
übt habe, wie lügenhafte Dichter jetzt von ihm sagen.
Vielmehr müssen wir die Dichter dazu anhalten, daß
sie entweder nicht diese Handlungen von den Helden
erzählen, oder daß sie dieselben nicht für Söhne der
Götter ausgeben."

Noch eins find ich an dieser Gattung von Schick¬
salstragödien bemerkenswerth. Sie sind unnatürlich,
gekünstelt, forcirt von ihrer Entstehung an. Sie gehn
nicht aus einem Drange des Gemüths hervor, son¬
dern aus einer Berechnung des Verstandes, der et¬
was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es
ist dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um
Recensentenlob zu thun. Daher die merkwürdige Er¬
scheinung der Selbstrecension schon im Stück. Die
Helden reflectiren auf dem Theater selbst in wohlge¬
setzten Versen über ihre tragische Bedeutsamkeit und
Originalität. Der Dichter arbeitet dem Recensenten
vor, und weist immer auf den Paragraphen seiner
Ästhetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬
rührt werden sollen, wir sollen nur das stupende Ge¬
nie des Dichters bewundern, analysiren, kritisiren.
Wir sollen nicht selbst tragisch erschüttert werden,
uns nicht selbst fürchten oder erschrecken, sondern
nur einsehn, daß die Tragödie diese Wirkung bei
Andern hervorbringen könnte. Und das Parterre ist

immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann
darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt:
«Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden,
daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬
uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen.
Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß
ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden
erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der
Goͤtter ausgeben.»

Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬
ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich,
gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn
nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬
dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬
was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es
iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um
Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬
ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die
Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬
ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und
Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten
vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner
Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬
ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬
nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren.
Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden,
uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern
nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei
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[112/0122] immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt: «Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden, daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬ uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen. Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der Goͤtter ausgeben.» Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬ ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich, gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬ dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬ was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬ ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬ ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬ ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬ nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren. Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden, uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei Andern hervorbringen koͤnnte. Und das Parterre iſt

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/122>, abgerufen am 25.11.2024.