Wilhelm Tell, in seiner Art das vollendete Seiten¬ stück zur Jungfrau von Orleans.
Wenn hier überall die Unschuld in ihrer reinsten Glorie hervortritt, so kannte Schiller doch auch jenen Kampf einer ursprünglichen Unschuld mit der Be¬ fleckung eigner Schuld durch große Leidenschaften, und er hat ihn mit gleicher Liebe und mit derselben vollendeten Kunst uns vor die Seele gezaubert. Wie tief ergreift uns jenes Magdalenenhafte in Maria Stuart! Was kann rührender seyn, als die Selbst¬ überwindung Karl Moor's! Wie unübertrefflich geist¬ reich, wahr, erschütternd ist der Kampf in Fiesko's und Wallensteins großen Seelen dargestellt!
Wir wenden uns zu einem zweiten Geheimniß der Schönheit in den, idealen Naturen Schiller's. Dies ist das Adelige, die Ehrenhaftigkeit. Seine Helden und Heldinnen verläugnen den Stolz und die Würde niemals, die eine höhere Natur beurkunden, und alle ihre Äußerungen tragen den Stempel der Großmuth und des angebornen Adels. Ihr reiner Gegensatz ist das Gemeine, und jene Convenienz, welche der gemeinen Natur zum Zaum und Gängel¬ bande dient. Kräftig, frei, selbstständig, originell, nur dem Zuge der edlen Natur folgend, zerreißen Schiller's Helden die Gewebe, darin gemeine Men¬ schen ihr alltägliches Daseyn hinschleppen. Es ist höchst bezeichnend für die Poesie Schiller's, daß alle seine Helden jenes Gepräge des Genies, das impo¬ nirende Wesen an sich tragen, das auch im wirklichen
Wilhelm Tell, in ſeiner Art das vollendete Seiten¬ ſtuͤck zur Jungfrau von Orleans.
Wenn hier uͤberall die Unſchuld in ihrer reinſten Glorie hervortritt, ſo kannte Schiller doch auch jenen Kampf einer urſpruͤnglichen Unſchuld mit der Be¬ fleckung eigner Schuld durch große Leidenſchaften, und er hat ihn mit gleicher Liebe und mit derſelben vollendeten Kunſt uns vor die Seele gezaubert. Wie tief ergreift uns jenes Magdalenenhafte in Maria Stuart! Was kann ruͤhrender ſeyn, als die Selbſt¬ uͤberwindung Karl Moor's! Wie unuͤbertrefflich geiſt¬ reich, wahr, erſchuͤtternd iſt der Kampf in Fiesko's und Wallenſteins großen Seelen dargeſtellt!
Wir wenden uns zu einem zweiten Geheimniß der Schoͤnheit in den, idealen Naturen Schiller's. Dies iſt das Adelige, die Ehrenhaftigkeit. Seine Helden und Heldinnen verlaͤugnen den Stolz und die Wuͤrde niemals, die eine hoͤhere Natur beurkunden, und alle ihre Äußerungen tragen den Stempel der Großmuth und des angebornen Adels. Ihr reiner Gegenſatz iſt das Gemeine, und jene Convenienz, welche der gemeinen Natur zum Zaum und Gaͤngel¬ bande dient. Kraͤftig, frei, ſelbſtſtaͤndig, originell, nur dem Zuge der edlen Natur folgend, zerreißen Schiller's Helden die Gewebe, darin gemeine Men¬ ſchen ihr alltaͤgliches Daſeyn hinſchleppen. Es iſt hoͤchſt bezeichnend fuͤr die Poeſie Schiller's, daß alle ſeine Helden jenes Gepraͤge des Genies, das impo¬ nirende Weſen an ſich tragen, das auch im wirklichen
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Wilhelm Tell, in ſeiner Art das vollendete Seiten¬
ſtuͤck zur Jungfrau von Orleans.
Wenn hier uͤberall die Unſchuld in ihrer reinſten
Glorie hervortritt, ſo kannte Schiller doch auch jenen
Kampf einer urſpruͤnglichen Unſchuld mit der Be¬
fleckung eigner Schuld durch große Leidenſchaften,
und er hat ihn mit gleicher Liebe und mit derſelben
vollendeten Kunſt uns vor die Seele gezaubert. Wie
tief ergreift uns jenes Magdalenenhafte in Maria
Stuart! Was kann ruͤhrender ſeyn, als die Selbſt¬
uͤberwindung Karl Moor's! Wie unuͤbertrefflich geiſt¬
reich, wahr, erſchuͤtternd iſt der Kampf in Fiesko's
und Wallenſteins großen Seelen dargeſtellt!
Wir wenden uns zu einem zweiten Geheimniß
der Schoͤnheit in den, idealen Naturen Schiller's.
Dies iſt das Adelige, die Ehrenhaftigkeit. Seine
Helden und Heldinnen verlaͤugnen den Stolz und die
Wuͤrde niemals, die eine hoͤhere Natur beurkunden,
und alle ihre Äußerungen tragen den Stempel der
Großmuth und des angebornen Adels. Ihr reiner
Gegenſatz iſt das Gemeine, und jene Convenienz,
welche der gemeinen Natur zum Zaum und Gaͤngel¬
bande dient. Kraͤftig, frei, ſelbſtſtaͤndig, originell,
nur dem Zuge der edlen Natur folgend, zerreißen
Schiller's Helden die Gewebe, darin gemeine Men¬
ſchen ihr alltaͤgliches Daſeyn hinſchleppen. Es iſt
hoͤchſt bezeichnend fuͤr die Poeſie Schiller's, daß alle
ſeine Helden jenes Gepraͤge des Genies, das impo¬
nirende Weſen an ſich tragen, das auch im wirklichen
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/135>, abgerufen am 24.11.2024.
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