Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

und Anhäufen von Thatsachen der Natur übertreffen,
und geben wir den Engländern noch den praktischen
Sinn für die Anwendung der Naturkräfte, den Fran¬
zosen die feine Beobachtungsgabe für einzelne Natur¬
gegenstände voraus, so bleiben die Deutschen doch
unübertroffen in der tiefen Combination der empiri¬
schen Thatsachen, die einerseits zu unsterblichen neuen
Entdeckungen, andrerseits zu einer Philosophie der
Natur überhaupt führt.

Die Naturwissenschaft dient den Zwecken des Le¬
bens, darüber hinaus aber ist sie ihr eigner Zweck.
Dieser Zweck ist das, was wir die Naturphilosophie
nennen, die Erkenntniß der Einheit in der Mannig¬
faltigkeit der Natur, die Ergründung des Wesens in
allen ihren Erscheinungen. Die empirische Naturfor¬
schung ist nur das Mittel dazu.

Die Natur bietet uns nichts als Erfahrungen,
doch jede Sammlung derselben bleibt ungenügend,
wenn der speculative Geist des Menschen in der un¬
endlichen Mannigfaltigkeit nicht die Einheit entdeckt,
und die Theile dem Ganzen, die Wirkungen den Ur¬
sachen verbindet. Auf der andern Seite aber sind
dem menschlichen Geiste Schranken gezogen, durch die
er nie in die geheimste Werkstätte der Natur hinüber¬
blicken kann. Demnach haben die deutschen Natur¬
forscher in zwei Parteien sich getheilt. Die Einen
erkennen die Nothwendigkeit einer alles umfassenden,
durchdringenden und aufklärenden Naturphiloso¬
phie
, und der den Deutschen so eigenthümliche Tiefsinn

und Anhaͤufen von Thatſachen der Natur uͤbertreffen,
und geben wir den Englaͤndern noch den praktiſchen
Sinn fuͤr die Anwendung der Naturkraͤfte, den Fran¬
zoſen die feine Beobachtungsgabe fuͤr einzelne Natur¬
gegenſtaͤnde voraus, ſo bleiben die Deutſchen doch
unuͤbertroffen in der tiefen Combination der empiri¬
ſchen Thatſachen, die einerſeits zu unſterblichen neuen
Entdeckungen, andrerſeits zu einer Philoſophie der
Natur uͤberhaupt fuͤhrt.

Die Naturwiſſenſchaft dient den Zwecken des Le¬
bens, daruͤber hinaus aber iſt ſie ihr eigner Zweck.
Dieſer Zweck iſt das, was wir die Naturphiloſophie
nennen, die Erkenntniß der Einheit in der Mannig¬
faltigkeit der Natur, die Ergruͤndung des Weſens in
allen ihren Erſcheinungen. Die empiriſche Naturfor¬
ſchung iſt nur das Mittel dazu.

Die Natur bietet uns nichts als Erfahrungen,
doch jede Sammlung derſelben bleibt ungenuͤgend,
wenn der ſpeculative Geiſt des Menſchen in der un¬
endlichen Mannigfaltigkeit nicht die Einheit entdeckt,
und die Theile dem Ganzen, die Wirkungen den Ur¬
ſachen verbindet. Auf der andern Seite aber ſind
dem menſchlichen Geiſte Schranken gezogen, durch die
er nie in die geheimſte Werkſtaͤtte der Natur hinuͤber¬
blicken kann. Demnach haben die deutſchen Natur¬
forſcher in zwei Parteien ſich getheilt. Die Einen
erkennen die Nothwendigkeit einer alles umfaſſenden,
durchdringenden und aufklaͤrenden Naturphiloſo¬
phie
, und der den Deutſchen ſo eigenthuͤmliche Tiefſinn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014" n="4"/>
und Anha&#x0364;ufen von That&#x017F;achen der Natur u&#x0364;bertreffen,<lb/>
und geben wir den Engla&#x0364;ndern noch den prakti&#x017F;chen<lb/>
Sinn fu&#x0364;r die Anwendung der Naturkra&#x0364;fte, den Fran¬<lb/>
zo&#x017F;en die feine Beobachtungsgabe fu&#x0364;r einzelne Natur¬<lb/>
gegen&#x017F;ta&#x0364;nde voraus, &#x017F;o bleiben die Deut&#x017F;chen doch<lb/>
unu&#x0364;bertroffen in der tiefen Combination der empiri¬<lb/>
&#x017F;chen That&#x017F;achen, die einer&#x017F;eits zu un&#x017F;terblichen neuen<lb/>
Entdeckungen, andrer&#x017F;eits zu einer Philo&#x017F;ophie der<lb/>
Natur u&#x0364;berhaupt fu&#x0364;hrt.</p><lb/>
        <p>Die Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft dient den Zwecken des Le¬<lb/>
bens, daru&#x0364;ber hinaus aber i&#x017F;t &#x017F;ie ihr eigner Zweck.<lb/>
Die&#x017F;er Zweck i&#x017F;t das, was wir die Naturphilo&#x017F;ophie<lb/>
nennen, die Erkenntniß der Einheit in der Mannig¬<lb/>
faltigkeit der Natur, die Ergru&#x0364;ndung des We&#x017F;ens in<lb/>
allen ihren Er&#x017F;cheinungen. Die empiri&#x017F;che Naturfor¬<lb/>
&#x017F;chung i&#x017F;t nur das Mittel dazu.</p><lb/>
        <p>Die Natur bietet uns nichts als Erfahrungen,<lb/>
doch jede Sammlung der&#x017F;elben bleibt ungenu&#x0364;gend,<lb/>
wenn der &#x017F;peculative Gei&#x017F;t des Men&#x017F;chen in der un¬<lb/>
endlichen Mannigfaltigkeit nicht die Einheit entdeckt,<lb/>
und die Theile dem Ganzen, die Wirkungen den Ur¬<lb/>
&#x017F;achen verbindet. Auf der andern Seite aber &#x017F;ind<lb/>
dem men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;te Schranken gezogen, durch die<lb/>
er nie in die geheim&#x017F;te Werk&#x017F;ta&#x0364;tte der Natur hinu&#x0364;ber¬<lb/>
blicken kann. Demnach haben die deut&#x017F;chen Natur¬<lb/>
for&#x017F;cher in zwei Parteien &#x017F;ich getheilt. Die Einen<lb/>
erkennen die Nothwendigkeit einer alles umfa&#x017F;&#x017F;enden,<lb/>
durchdringenden und aufkla&#x0364;renden <hi rendition="#g">Naturphilo&#x017F;<lb/>
phie</hi>, und der den Deut&#x017F;chen &#x017F;o eigenthu&#x0364;mliche Tief&#x017F;inn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0014] und Anhaͤufen von Thatſachen der Natur uͤbertreffen, und geben wir den Englaͤndern noch den praktiſchen Sinn fuͤr die Anwendung der Naturkraͤfte, den Fran¬ zoſen die feine Beobachtungsgabe fuͤr einzelne Natur¬ gegenſtaͤnde voraus, ſo bleiben die Deutſchen doch unuͤbertroffen in der tiefen Combination der empiri¬ ſchen Thatſachen, die einerſeits zu unſterblichen neuen Entdeckungen, andrerſeits zu einer Philoſophie der Natur uͤberhaupt fuͤhrt. Die Naturwiſſenſchaft dient den Zwecken des Le¬ bens, daruͤber hinaus aber iſt ſie ihr eigner Zweck. Dieſer Zweck iſt das, was wir die Naturphiloſophie nennen, die Erkenntniß der Einheit in der Mannig¬ faltigkeit der Natur, die Ergruͤndung des Weſens in allen ihren Erſcheinungen. Die empiriſche Naturfor¬ ſchung iſt nur das Mittel dazu. Die Natur bietet uns nichts als Erfahrungen, doch jede Sammlung derſelben bleibt ungenuͤgend, wenn der ſpeculative Geiſt des Menſchen in der un¬ endlichen Mannigfaltigkeit nicht die Einheit entdeckt, und die Theile dem Ganzen, die Wirkungen den Ur¬ ſachen verbindet. Auf der andern Seite aber ſind dem menſchlichen Geiſte Schranken gezogen, durch die er nie in die geheimſte Werkſtaͤtte der Natur hinuͤber¬ blicken kann. Demnach haben die deutſchen Natur¬ forſcher in zwei Parteien ſich getheilt. Die Einen erkennen die Nothwendigkeit einer alles umfaſſenden, durchdringenden und aufklaͤrenden Naturphiloſo¬ phie, und der den Deutſchen ſo eigenthuͤmliche Tiefſinn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/14
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/14>, abgerufen am 23.11.2024.