höhern Werth. Die tiefsten und fruchtbarsten Ideen erhalten ihre höchste Bedeutung erst in der Harmonie aller Ideen. Ihre Stellung im Ideengebäude ist so wichtig, als ihr Gehalt, und bestimmt denselben erst völlig. Ihre kunstreiche Entgegenstellung macht erst die große Wirkung, und es giebt einen Contrapunkt in der philosophischen Construktion, wie in der musi¬ kalischen.
Diese Gattung von Poesie nimmt also ihren Ur¬ sprung in der Vision, ihr Wesen ist Mystifikation des Weltganzen, ihre Form Harmonik. Unter uns Deut¬ schen steht in dieser Gattung Jakob Böhme oben an. Alle seine Werke sind poetische Visionen, darin er die gemeine Natur in einem mystischen Zauberlicht, wie im Goldglanz der Morgenröthe erblickte, und in ihren innersten Leib und Bau bis zum Herzen und Centrum, wie in ein dursichtiges Krystallschloß hin¬ einsah. Diesen geheimnißvollen, dem gemeinen Auge verborgenen Bau construirt er nun in den kunstreich¬ sten Lineamenten und Verschlingungen, worin ihn noch kein Philosoph übertroffen hat. Was die Stereo¬ metrie, die gothische Architektonik und die Fugen¬ kunst je an kühnen und feinen Construktionen erdacht, das findet sich in Jakob Böhme's Wunderbau der Natur beisammen. Bei den neuern Naturphilosophen überwiegt die materielle Masse der Ideen die Kunst der Construktion. Sie construiren meist nur in ge¬ meinen geometrischen Verhältnissen, ohne Ahnung der höhern Harmonik. Dagegen gewinnen sie auf der
hoͤhern Werth. Die tiefſten und fruchtbarſten Ideen erhalten ihre hoͤchſte Bedeutung erſt in der Harmonie aller Ideen. Ihre Stellung im Ideengebaͤude iſt ſo wichtig, als ihr Gehalt, und beſtimmt denſelben erſt voͤllig. Ihre kunſtreiche Entgegenſtellung macht erſt die große Wirkung, und es giebt einen Contrapunkt in der philoſophiſchen Conſtruktion, wie in der muſi¬ kaliſchen.
Dieſe Gattung von Poeſie nimmt alſo ihren Ur¬ ſprung in der Viſion, ihr Weſen iſt Myſtifikation des Weltganzen, ihre Form Harmonik. Unter uns Deut¬ ſchen ſteht in dieſer Gattung Jakob Boͤhme oben an. Alle ſeine Werke ſind poetiſche Viſionen, darin er die gemeine Natur in einem myſtiſchen Zauberlicht, wie im Goldglanz der Morgenroͤthe erblickte, und in ihren innerſten Leib und Bau bis zum Herzen und Centrum, wie in ein durſichtiges Kryſtallſchloß hin¬ einſah. Dieſen geheimnißvollen, dem gemeinen Auge verborgenen Bau conſtruirt er nun in den kunſtreich¬ ſten Lineamenten und Verſchlingungen, worin ihn noch kein Philoſoph uͤbertroffen hat. Was die Stereo¬ metrie, die gothiſche Architektonik und die Fugen¬ kunſt je an kuͤhnen und feinen Conſtruktionen erdacht, das findet ſich in Jakob Boͤhme's Wunderbau der Natur beiſammen. Bei den neuern Naturphiloſophen uͤberwiegt die materielle Maſſe der Ideen die Kunſt der Conſtruktion. Sie conſtruiren meiſt nur in ge¬ meinen geometriſchen Verhaͤltniſſen, ohne Ahnung der hoͤhern Harmonik. Dagegen gewinnen ſie auf der
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hoͤhern Werth. Die tiefſten und fruchtbarſten Ideen
erhalten ihre hoͤchſte Bedeutung erſt in der Harmonie
aller Ideen. Ihre Stellung im Ideengebaͤude iſt ſo
wichtig, als ihr Gehalt, und beſtimmt denſelben erſt
voͤllig. Ihre kunſtreiche Entgegenſtellung macht erſt
die große Wirkung, und es giebt einen Contrapunkt
in der philoſophiſchen Conſtruktion, wie in der muſi¬
kaliſchen.
Dieſe Gattung von Poeſie nimmt alſo ihren Ur¬
ſprung in der Viſion, ihr Weſen iſt Myſtifikation des
Weltganzen, ihre Form Harmonik. Unter uns Deut¬
ſchen ſteht in dieſer Gattung Jakob Boͤhme oben
an. Alle ſeine Werke ſind poetiſche Viſionen, darin
er die gemeine Natur in einem myſtiſchen Zauberlicht,
wie im Goldglanz der Morgenroͤthe erblickte, und in
ihren innerſten Leib und Bau bis zum Herzen und
Centrum, wie in ein durſichtiges Kryſtallſchloß hin¬
einſah. Dieſen geheimnißvollen, dem gemeinen Auge
verborgenen Bau conſtruirt er nun in den kunſtreich¬
ſten Lineamenten und Verſchlingungen, worin ihn noch
kein Philoſoph uͤbertroffen hat. Was die Stereo¬
metrie, die gothiſche Architektonik und die Fugen¬
kunſt je an kuͤhnen und feinen Conſtruktionen erdacht,
das findet ſich in Jakob Boͤhme's Wunderbau der
Natur beiſammen. Bei den neuern Naturphiloſophen
uͤberwiegt die materielle Maſſe der Ideen die Kunſt
der Conſtruktion. Sie conſtruiren meiſt nur in ge¬
meinen geometriſchen Verhaͤltniſſen, ohne Ahnung der
hoͤhern Harmonik. Dagegen gewinnen ſie auf der
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/146>, abgerufen am 22.11.2024.
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