Göthen finden wir überall durch einen innigen Zug mit der Natur verbunden. Alle seine Gedichte sind Triumphe, welche die Natur über die Freiheit des Menschen feiert. Zwar sucht und findet er über¬ all in der Natur den Menschen, aber auch nur den Menschen in der Natur, in den unauflöslichen Ban¬ den des Elementargeistes. Die kühne Freiheit, in welcher der Mensch sich zum Gott erhebt, schien ihm frevelhaft und thöricht. In der übernatürlichen Erhe¬ bung des Menschen sah er nur eine unnatürliche Ent¬ fremdung, ja Erniedrigung. Alles Menschliche der Natur fügsam in allen Falten anzuschmiegen, war die große Idee seines Lebens und Wirkens. Wie er selber, tief eingewurzelt mit allen Nerven und Adern in das irdische Daseyn, die Natur in ihrer ganzen Tiefe durchschaut, in ihrer ganzen Fülle genossen, so hat er sich zum Canon der Humanität gemacht, und diese daher ganz in die Naturgrenzen hinabgezogen. Wohl erkennend aber den Gegensatz des Idealen und der Natur, hat er jenes Ideal als das trügerische Schattenbild des menschlichen Hochmuths bezeichnet, und das Streben darnach als Unnatur, die nur zum Tode führt, durchaus verworfen. In diesem Sinne hat er seinen Faust gedichtet, sein größtes Gedicht, wie es den größten Gegenstand hat, und wie es die Eigenthümlichkeit des Dichters im strengsten Gegen¬ satz gegen andre ausdrückt. Das Gedicht ist eben dieses Gegensatzes wegen ganz negativ, es ist eine Parodie aller Bestrebungen menschlicher Freiheit seit
Goͤthen finden wir uͤberall durch einen innigen Zug mit der Natur verbunden. Alle ſeine Gedichte ſind Triumphe, welche die Natur uͤber die Freiheit des Menſchen feiert. Zwar ſucht und findet er uͤber¬ all in der Natur den Menſchen, aber auch nur den Menſchen in der Natur, in den unaufloͤslichen Ban¬ den des Elementargeiſtes. Die kuͤhne Freiheit, in welcher der Menſch ſich zum Gott erhebt, ſchien ihm frevelhaft und thoͤricht. In der uͤbernatuͤrlichen Erhe¬ bung des Menſchen ſah er nur eine unnatuͤrliche Ent¬ fremdung, ja Erniedrigung. Alles Menſchliche der Natur fuͤgſam in allen Falten anzuſchmiegen, war die große Idee ſeines Lebens und Wirkens. Wie er ſelber, tief eingewurzelt mit allen Nerven und Adern in das irdiſche Daſeyn, die Natur in ihrer ganzen Tiefe durchſchaut, in ihrer ganzen Fuͤlle genoſſen, ſo hat er ſich zum Canon der Humanitaͤt gemacht, und dieſe daher ganz in die Naturgrenzen hinabgezogen. Wohl erkennend aber den Gegenſatz des Idealen und der Natur, hat er jenes Ideal als das truͤgeriſche Schattenbild des menſchlichen Hochmuths bezeichnet, und das Streben darnach als Unnatur, die nur zum Tode fuͤhrt, durchaus verworfen. In dieſem Sinne hat er ſeinen Fauſt gedichtet, ſein groͤßtes Gedicht, wie es den groͤßten Gegenſtand hat, und wie es die Eigenthuͤmlichkeit des Dichters im ſtrengſten Gegen¬ ſatz gegen andre ausdruͤckt. Das Gedicht iſt eben dieſes Gegenſatzes wegen ganz negativ, es iſt eine Parodie aller Beſtrebungen menſchlicher Freiheit ſeit
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0150"n="140"/><p>Goͤthen finden wir uͤberall durch einen innigen<lb/>
Zug mit der Natur verbunden. Alle ſeine Gedichte<lb/>ſind Triumphe, welche die Natur uͤber die Freiheit<lb/>
des Menſchen feiert. Zwar ſucht und findet er uͤber¬<lb/>
all in der Natur den Menſchen, aber auch nur den<lb/>
Menſchen in der Natur, in den unaufloͤslichen Ban¬<lb/>
den des Elementargeiſtes. Die kuͤhne Freiheit, in<lb/>
welcher der Menſch ſich zum Gott erhebt, ſchien ihm<lb/>
frevelhaft und thoͤricht. In der uͤbernatuͤrlichen Erhe¬<lb/>
bung des Menſchen ſah er nur eine unnatuͤrliche Ent¬<lb/>
fremdung, ja Erniedrigung. Alles Menſchliche der<lb/>
Natur fuͤgſam in allen Falten anzuſchmiegen, war<lb/>
die große Idee ſeines Lebens und Wirkens. Wie er<lb/>ſelber, tief eingewurzelt mit allen Nerven und Adern<lb/>
in das irdiſche Daſeyn, die Natur in ihrer ganzen<lb/>
Tiefe durchſchaut, in ihrer ganzen Fuͤlle genoſſen, ſo<lb/>
hat er ſich zum Canon der Humanitaͤt gemacht, und<lb/>
dieſe daher ganz in die Naturgrenzen hinabgezogen.<lb/>
Wohl erkennend aber den Gegenſatz des Idealen und<lb/>
der Natur, hat er jenes Ideal als das truͤgeriſche<lb/>
Schattenbild des menſchlichen Hochmuths bezeichnet,<lb/>
und das Streben darnach als Unnatur, die nur zum<lb/>
Tode fuͤhrt, durchaus verworfen. In dieſem Sinne<lb/>
hat er ſeinen Fauſt gedichtet, ſein groͤßtes Gedicht,<lb/>
wie es den groͤßten Gegenſtand hat, und wie es die<lb/>
Eigenthuͤmlichkeit des Dichters im ſtrengſten Gegen¬<lb/>ſatz gegen andre ausdruͤckt. Das Gedicht iſt eben<lb/>
dieſes Gegenſatzes wegen ganz negativ, es iſt eine<lb/>
Parodie aller Beſtrebungen menſchlicher Freiheit ſeit<lb/></p></div></body></text></TEI>
[140/0150]
Goͤthen finden wir uͤberall durch einen innigen
Zug mit der Natur verbunden. Alle ſeine Gedichte
ſind Triumphe, welche die Natur uͤber die Freiheit
des Menſchen feiert. Zwar ſucht und findet er uͤber¬
all in der Natur den Menſchen, aber auch nur den
Menſchen in der Natur, in den unaufloͤslichen Ban¬
den des Elementargeiſtes. Die kuͤhne Freiheit, in
welcher der Menſch ſich zum Gott erhebt, ſchien ihm
frevelhaft und thoͤricht. In der uͤbernatuͤrlichen Erhe¬
bung des Menſchen ſah er nur eine unnatuͤrliche Ent¬
fremdung, ja Erniedrigung. Alles Menſchliche der
Natur fuͤgſam in allen Falten anzuſchmiegen, war
die große Idee ſeines Lebens und Wirkens. Wie er
ſelber, tief eingewurzelt mit allen Nerven und Adern
in das irdiſche Daſeyn, die Natur in ihrer ganzen
Tiefe durchſchaut, in ihrer ganzen Fuͤlle genoſſen, ſo
hat er ſich zum Canon der Humanitaͤt gemacht, und
dieſe daher ganz in die Naturgrenzen hinabgezogen.
Wohl erkennend aber den Gegenſatz des Idealen und
der Natur, hat er jenes Ideal als das truͤgeriſche
Schattenbild des menſchlichen Hochmuths bezeichnet,
und das Streben darnach als Unnatur, die nur zum
Tode fuͤhrt, durchaus verworfen. In dieſem Sinne
hat er ſeinen Fauſt gedichtet, ſein groͤßtes Gedicht,
wie es den groͤßten Gegenſtand hat, und wie es die
Eigenthuͤmlichkeit des Dichters im ſtrengſten Gegen¬
ſatz gegen andre ausdruͤckt. Das Gedicht iſt eben
dieſes Gegenſatzes wegen ganz negativ, es iſt eine
Parodie aller Beſtrebungen menſchlicher Freiheit ſeit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/150>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.