gen. Die andre Richtung führt in die Weite; sie sucht überall, in der Tiefe der Menschenbrust, in der Natur, in der Geschichte, bei allen Nationen jenes Ideal, und verbindet durch dasselbe alles Getrennte.
Herder's Genius nahm beide Richtungen voll¬ kommen in sich auf. Er war aber eben deßhalb nicht blos Dichter; er war Mensch im reinsten Sinn, Bürger, Philosoph und Dichter. Die Poesie im en¬ gern Sinn galt ihm nicht blos als einem produkti¬ ven Dichter, er suchte sie auch bei allen andern Na¬ tionen aus und vermittelte sie dem Bedürfniß seiner Landsleute. Dabei galt ihm auf gleiche Weise die Philosophie und das praktische Leben, und er war ein Bekenner des Wahren und Guten, wie des Schö¬ nen. Wer aber in dieser Harmonie die höchsten Ideale für die höchsten Äußerungen der menschlichen Seele als eine Gottheit in dreifacher Erscheinung verehrt, ihnen die Flammen seines Herzens auf einem Altar lodern läßt, dessen ganzes Wessen muß von Poesie durchdrungen, muß selbst Poesie seyn. Eine solche Vereinigung ist nur im poetischen Gemüthe möglich. Der Urquell aller dieser Richtungen und Bestrebun¬ gen, der Urquell einer so allumfassenden Sehnsucht und Liebe ist nur das Herz. Wie in ihrem inner¬ sten Lebensprincip für sich, so in ihrer Erscheinung für andre ist sie poetisch. Darum hat Jean Paul, Herder's innigster Verehrer, den kurzen und treffen¬ den Ausspruch gethan: er war mehr ein Gedicht, als ein Dichter.
gen. Die andre Richtung fuͤhrt in die Weite; ſie ſucht uͤberall, in der Tiefe der Menſchenbruſt, in der Natur, in der Geſchichte, bei allen Nationen jenes Ideal, und verbindet durch daſſelbe alles Getrennte.
Herder's Genius nahm beide Richtungen voll¬ kommen in ſich auf. Er war aber eben deßhalb nicht blos Dichter; er war Menſch im reinſten Sinn, Buͤrger, Philoſoph und Dichter. Die Poeſie im en¬ gern Sinn galt ihm nicht blos als einem produkti¬ ven Dichter, er ſuchte ſie auch bei allen andern Na¬ tionen aus und vermittelte ſie dem Beduͤrfniß ſeiner Landsleute. Dabei galt ihm auf gleiche Weiſe die Philoſophie und das praktiſche Leben, und er war ein Bekenner des Wahren und Guten, wie des Schoͤ¬ nen. Wer aber in dieſer Harmonie die hoͤchſten Ideale fuͤr die hoͤchſten Äußerungen der menſchlichen Seele als eine Gottheit in dreifacher Erſcheinung verehrt, ihnen die Flammen ſeines Herzens auf einem Altar lodern laͤßt, deſſen ganzes Weſſen muß von Poeſie durchdrungen, muß ſelbſt Poeſie ſeyn. Eine ſolche Vereinigung iſt nur im poetiſchen Gemuͤthe moͤglich. Der Urquell aller dieſer Richtungen und Beſtrebun¬ gen, der Urquell einer ſo allumfaſſenden Sehnſucht und Liebe iſt nur das Herz. Wie in ihrem inner¬ ſten Lebensprincip fuͤr ſich, ſo in ihrer Erſcheinung fuͤr andre iſt ſie poetiſch. Darum hat Jean Paul, Herder's innigſter Verehrer, den kurzen und treffen¬ den Ausſpruch gethan: er war mehr ein Gedicht, als ein Dichter.
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gen. Die andre Richtung fuͤhrt in die Weite; ſie
ſucht uͤberall, in der Tiefe der Menſchenbruſt, in der
Natur, in der Geſchichte, bei allen Nationen jenes
Ideal, und verbindet durch daſſelbe alles Getrennte.
Herder's Genius nahm beide Richtungen voll¬
kommen in ſich auf. Er war aber eben deßhalb nicht
blos Dichter; er war Menſch im reinſten Sinn,
Buͤrger, Philoſoph und Dichter. Die Poeſie im en¬
gern Sinn galt ihm nicht blos als einem produkti¬
ven Dichter, er ſuchte ſie auch bei allen andern Na¬
tionen aus und vermittelte ſie dem Beduͤrfniß ſeiner
Landsleute. Dabei galt ihm auf gleiche Weiſe die
Philoſophie und das praktiſche Leben, und er war
ein Bekenner des Wahren und Guten, wie des Schoͤ¬
nen. Wer aber in dieſer Harmonie die hoͤchſten Ideale
fuͤr die hoͤchſten Äußerungen der menſchlichen Seele
als eine Gottheit in dreifacher Erſcheinung verehrt,
ihnen die Flammen ſeines Herzens auf einem Altar
lodern laͤßt, deſſen ganzes Weſſen muß von Poeſie
durchdrungen, muß ſelbſt Poeſie ſeyn. Eine ſolche
Vereinigung iſt nur im poetiſchen Gemuͤthe moͤglich.
Der Urquell aller dieſer Richtungen und Beſtrebun¬
gen, der Urquell einer ſo allumfaſſenden Sehnſucht
und Liebe iſt nur das Herz. Wie in ihrem inner¬
ſten Lebensprincip fuͤr ſich, ſo in ihrer Erſcheinung
fuͤr andre iſt ſie poetiſch. Darum hat Jean Paul,
Herder's innigſter Verehrer, den kurzen und treffen¬
den Ausſpruch gethan: er war mehr ein Gedicht, als
ein Dichter.
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/166>, abgerufen am 24.11.2024.
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