Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Die große Wirkung, die Herder's Schriften auf
die Deutschen gemacht, wird seinem Genius im Gan¬
zen verdankt, nicht einzelnen dichterischen Schöpfungen.

Was Herder mit dem Ausdruck Humanität, als
das Ziel seines ganzen Strebens sich bezeichnet, war
die Blüthenkrone alles Menschlichen, das Ideale,
Reine, Edle, Schöne, zu dem alle Zeiten und Völ¬
ker, alle Institute führen sollen, für dessen Errei¬
chung die Menschheit zu leben, das ihren Fortschritt
zu bedingen scheint. Er sah in der Welt ein orga¬
nisches Ganze, eine Pflanze, die in ihrer fortschrei¬
tenden Entwicklung jene Blüthe des Edlen und Schö¬
nen tragen soll. Entwicklung, Evolution war ihm
das Wesen der Welt, kein Stillstand, kein Zwie¬
spalt ohne höhere Bindung. In dieser Anschauung
eines lebendigen Werdens der Welt, ihres Wachs¬
thums, ihrer Veredlung, ging seine Philosophie der
von Schelling voran, die eben durch diese Anerken¬
nung der Evolution ihren Vorzug errungen.

Er sah alle Individuen und Völker nur als die
Materie, alle Lebenskreise und Institutionen nur als
die Form an, in welcher jene Evolution verwirklicht
wird. Er verband sie durch dieselbe alle in einem
Geist und Leben. Seine Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit zeigen uns seinen Genius
im weitesten Umfang und umfassen der Anlage nach
alle seine Ansichten und Richtungen. Aber die Aus¬
führung konnte diesem Plane nicht genügen. Keine
Form wäre derselben gewachsen gewesen. Er fühlte

Die große Wirkung, die Herder's Schriften auf
die Deutſchen gemacht, wird ſeinem Genius im Gan¬
zen verdankt, nicht einzelnen dichteriſchen Schoͤpfungen.

Was Herder mit dem Ausdruck Humanitaͤt, als
das Ziel ſeines ganzen Strebens ſich bezeichnet, war
die Bluͤthenkrone alles Menſchlichen, das Ideale,
Reine, Edle, Schoͤne, zu dem alle Zeiten und Voͤl¬
ker, alle Inſtitute fuͤhren ſollen, fuͤr deſſen Errei¬
chung die Menſchheit zu leben, das ihren Fortſchritt
zu bedingen ſcheint. Er ſah in der Welt ein orga¬
niſches Ganze, eine Pflanze, die in ihrer fortſchrei¬
tenden Entwicklung jene Bluͤthe des Edlen und Schoͤ¬
nen tragen ſoll. Entwicklung, Evolution war ihm
das Weſen der Welt, kein Stillſtand, kein Zwie¬
ſpalt ohne hoͤhere Bindung. In dieſer Anſchauung
eines lebendigen Werdens der Welt, ihres Wachs¬
thums, ihrer Veredlung, ging ſeine Philoſophie der
von Schelling voran, die eben durch dieſe Anerken¬
nung der Evolution ihren Vorzug errungen.

Er ſah alle Individuen und Voͤlker nur als die
Materie, alle Lebenskreiſe und Inſtitutionen nur als
die Form an, in welcher jene Evolution verwirklicht
wird. Er verband ſie durch dieſelbe alle in einem
Geiſt und Leben. Seine Ideen zur Philoſophie der
Geſchichte der Menſchheit zeigen uns ſeinen Genius
im weiteſten Umfang und umfaſſen der Anlage nach
alle ſeine Anſichten und Richtungen. Aber die Aus¬
fuͤhrung konnte dieſem Plane nicht genuͤgen. Keine
Form waͤre derſelben gewachſen geweſen. Er fuͤhlte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0167" n="157"/>
        <p>Die große Wirkung, die Herder's Schriften auf<lb/>
die Deut&#x017F;chen gemacht, wird &#x017F;einem Genius im Gan¬<lb/>
zen verdankt, nicht einzelnen dichteri&#x017F;chen Scho&#x0364;pfungen.</p><lb/>
        <p>Was Herder mit dem Ausdruck Humanita&#x0364;t, als<lb/>
das Ziel &#x017F;eines ganzen Strebens &#x017F;ich bezeichnet, war<lb/>
die Blu&#x0364;thenkrone alles Men&#x017F;chlichen, das Ideale,<lb/>
Reine, Edle, Scho&#x0364;ne, zu dem alle Zeiten und Vo&#x0364;<lb/>
ker, alle In&#x017F;titute fu&#x0364;hren &#x017F;ollen, fu&#x0364;r de&#x017F;&#x017F;en Errei¬<lb/>
chung die Men&#x017F;chheit zu leben, das ihren Fort&#x017F;chritt<lb/>
zu bedingen &#x017F;cheint. Er &#x017F;ah in der Welt ein orga¬<lb/>
ni&#x017F;ches Ganze, eine Pflanze, die in ihrer fort&#x017F;chrei¬<lb/>
tenden Entwicklung jene Blu&#x0364;the des Edlen und Scho&#x0364;¬<lb/>
nen tragen &#x017F;oll. Entwicklung, Evolution war ihm<lb/>
das We&#x017F;en der Welt, kein Still&#x017F;tand, kein Zwie¬<lb/>
&#x017F;palt ohne ho&#x0364;here Bindung. In die&#x017F;er An&#x017F;chauung<lb/>
eines lebendigen Werdens der Welt, ihres Wachs¬<lb/>
thums, ihrer Veredlung, ging &#x017F;eine Philo&#x017F;ophie der<lb/>
von Schelling voran, die eben durch die&#x017F;e Anerken¬<lb/>
nung der Evolution ihren Vorzug errungen.</p><lb/>
        <p>Er &#x017F;ah alle Individuen und Vo&#x0364;lker nur als die<lb/>
Materie, alle Lebenskrei&#x017F;e und In&#x017F;titutionen nur als<lb/>
die Form an, in welcher jene Evolution verwirklicht<lb/>
wird. Er verband &#x017F;ie durch die&#x017F;elbe alle in einem<lb/>
Gei&#x017F;t und Leben. Seine Ideen zur Philo&#x017F;ophie der<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;chheit zeigen uns &#x017F;einen Genius<lb/>
im weite&#x017F;ten Umfang und umfa&#x017F;&#x017F;en der Anlage nach<lb/>
alle &#x017F;eine An&#x017F;ichten und Richtungen. Aber die Aus¬<lb/>
fu&#x0364;hrung konnte die&#x017F;em Plane nicht genu&#x0364;gen. Keine<lb/>
Form wa&#x0364;re der&#x017F;elben gewach&#x017F;en gewe&#x017F;en. Er fu&#x0364;hlte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0167] Die große Wirkung, die Herder's Schriften auf die Deutſchen gemacht, wird ſeinem Genius im Gan¬ zen verdankt, nicht einzelnen dichteriſchen Schoͤpfungen. Was Herder mit dem Ausdruck Humanitaͤt, als das Ziel ſeines ganzen Strebens ſich bezeichnet, war die Bluͤthenkrone alles Menſchlichen, das Ideale, Reine, Edle, Schoͤne, zu dem alle Zeiten und Voͤl¬ ker, alle Inſtitute fuͤhren ſollen, fuͤr deſſen Errei¬ chung die Menſchheit zu leben, das ihren Fortſchritt zu bedingen ſcheint. Er ſah in der Welt ein orga¬ niſches Ganze, eine Pflanze, die in ihrer fortſchrei¬ tenden Entwicklung jene Bluͤthe des Edlen und Schoͤ¬ nen tragen ſoll. Entwicklung, Evolution war ihm das Weſen der Welt, kein Stillſtand, kein Zwie¬ ſpalt ohne hoͤhere Bindung. In dieſer Anſchauung eines lebendigen Werdens der Welt, ihres Wachs¬ thums, ihrer Veredlung, ging ſeine Philoſophie der von Schelling voran, die eben durch dieſe Anerken¬ nung der Evolution ihren Vorzug errungen. Er ſah alle Individuen und Voͤlker nur als die Materie, alle Lebenskreiſe und Inſtitutionen nur als die Form an, in welcher jene Evolution verwirklicht wird. Er verband ſie durch dieſelbe alle in einem Geiſt und Leben. Seine Ideen zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit zeigen uns ſeinen Genius im weiteſten Umfang und umfaſſen der Anlage nach alle ſeine Anſichten und Richtungen. Aber die Aus¬ fuͤhrung konnte dieſem Plane nicht genuͤgen. Keine Form waͤre derſelben gewachſen geweſen. Er fuͤhlte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/167
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/167>, abgerufen am 21.11.2024.