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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Zuerst ist es die Schwäche, die wir in der poetischen
Darstellung beschönigen. Jede nur erdenkliche Charak¬
schwäche, Unbehülflichkeit und Erbärmlichkeit der gei¬
stigen Hämlinge unsrer Zeit, wird in Schauspielen
und Romanen bemäntelt, oder gar als das einzig
Ziemliche gepriesen. Die jämmerlichsten Romanhel¬
den werden von den Dichtern für die vortrefflichsten,
edelsten und musterhaftesten Personen nicht nur aus¬
gegeben, sondern sogar gehalten. Schwäche ist, wenn
kein Laster, doch die Wurzel des Lasters und der
nationellen Schande, und wer sie beschönigt und die
Nerven der Jugend durch die weichliche Speise er¬
schlaffen macht, verdient keine beßre Schonung, als
wer absichtlich die gesunden Seelen vergiftet. In je¬
nen sentimentalen Dichtungen werden Helden und Mu¬
ster aufgestellt, die fast immer nur die Portraits ihrer
jämmerlichen Urheber sind, moderne Schwächlinge,
aufgesteift mit etwas Moral oder Vorurtheilen. Aus
bloßem Mangel an Helden haben sehr viele Dichter
in die antike und romantische Welt flüchten müssen.
In der unsrigen, gegenwärtigen sind sie so rar, daß
man zu allen möglichen theatralischen Mitteln grei¬
fen muß, Wechselbälge herauszustutzen, um wenig¬
stens die Lücke derselben auszufüllen. Die wahren
Helden der neuern Zeit, wie Napoleon, passen nicht
recht in die Poesie, und die Poesie paßt nicht in
jene Surrogate von Helden und Heldinnen, die der
Toilette, dem Ball, der Parade oder den Gro߬
vaterstühlen und Kinderstuben entnommen sind. Das

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Zuerſt iſt es die Schwaͤche, die wir in der poetiſchen
Darſtellung beſchoͤnigen. Jede nur erdenkliche Charak¬
ſchwaͤche, Unbehuͤlflichkeit und Erbaͤrmlichkeit der gei¬
ſtigen Haͤmlinge unſrer Zeit, wird in Schauſpielen
und Romanen bemaͤntelt, oder gar als das einzig
Ziemliche geprieſen. Die jaͤmmerlichſten Romanhel¬
den werden von den Dichtern fuͤr die vortrefflichſten,
edelſten und muſterhafteſten Perſonen nicht nur aus¬
gegeben, ſondern ſogar gehalten. Schwaͤche iſt, wenn
kein Laſter, doch die Wurzel des Laſters und der
nationellen Schande, und wer ſie beſchoͤnigt und die
Nerven der Jugend durch die weichliche Speiſe er¬
ſchlaffen macht, verdient keine beßre Schonung, als
wer abſichtlich die geſunden Seelen vergiftet. In je¬
nen ſentimentalen Dichtungen werden Helden und Mu¬
ſter aufgeſtellt, die faſt immer nur die Portraits ihrer
jaͤmmerlichen Urheber ſind, moderne Schwaͤchlinge,
aufgeſteift mit etwas Moral oder Vorurtheilen. Aus
bloßem Mangel an Helden haben ſehr viele Dichter
in die antike und romantiſche Welt fluͤchten muͤſſen.
In der unſrigen, gegenwaͤrtigen ſind ſie ſo rar, daß
man zu allen moͤglichen theatraliſchen Mitteln grei¬
fen muß, Wechſelbaͤlge herauszuſtutzen, um wenig¬
ſtens die Luͤcke derſelben auszufuͤllen. Die wahren
Helden der neuern Zeit, wie Napoleon, paſſen nicht
recht in die Poeſie, und die Poeſie paßt nicht in
jene Surrogate von Helden und Heldinnen, die der
Toilette, dem Ball, der Parade oder den Gro߬
vaterſtuͤhlen und Kinderſtuben entnommen ſind. Das

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[195/0205] Zuerſt iſt es die Schwaͤche, die wir in der poetiſchen Darſtellung beſchoͤnigen. Jede nur erdenkliche Charak¬ ſchwaͤche, Unbehuͤlflichkeit und Erbaͤrmlichkeit der gei¬ ſtigen Haͤmlinge unſrer Zeit, wird in Schauſpielen und Romanen bemaͤntelt, oder gar als das einzig Ziemliche geprieſen. Die jaͤmmerlichſten Romanhel¬ den werden von den Dichtern fuͤr die vortrefflichſten, edelſten und muſterhafteſten Perſonen nicht nur aus¬ gegeben, ſondern ſogar gehalten. Schwaͤche iſt, wenn kein Laſter, doch die Wurzel des Laſters und der nationellen Schande, und wer ſie beſchoͤnigt und die Nerven der Jugend durch die weichliche Speiſe er¬ ſchlaffen macht, verdient keine beßre Schonung, als wer abſichtlich die geſunden Seelen vergiftet. In je¬ nen ſentimentalen Dichtungen werden Helden und Mu¬ ſter aufgeſtellt, die faſt immer nur die Portraits ihrer jaͤmmerlichen Urheber ſind, moderne Schwaͤchlinge, aufgeſteift mit etwas Moral oder Vorurtheilen. Aus bloßem Mangel an Helden haben ſehr viele Dichter in die antike und romantiſche Welt fluͤchten muͤſſen. In der unſrigen, gegenwaͤrtigen ſind ſie ſo rar, daß man zu allen moͤglichen theatraliſchen Mitteln grei¬ fen muß, Wechſelbaͤlge herauszuſtutzen, um wenig¬ ſtens die Luͤcke derſelben auszufuͤllen. Die wahren Helden der neuern Zeit, wie Napoleon, paſſen nicht recht in die Poeſie, und die Poeſie paßt nicht in jene Surrogate von Helden und Heldinnen, die der Toilette, dem Ball, der Parade oder den Gro߬ vaterſtuͤhlen und Kinderſtuben entnommen ſind. Das 9 *

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/205>, abgerufen am 21.11.2024.