Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

und Sitte des Augenblicks. Schiller gilt für die Ed¬
len aller Zeiten, Göthe war der Abgott seiner Zeit,
und konnte dieß nur seyn, indem er sich der Schwäche,
der Unnatur nicht minder hingab, als dem Edlen,
das sich noch geltend zu machen wußte. Er ist der
Abgott, aber auch das Geschöpf seiner Zeit. Es ist
gar nicht zu zweifeln, daß die Gemeinheit ihm selbst
erst geschmeichelt, sich ihm lieb und werth und sogar
poetisch dagestellt hat, ehe er ihr selbst schmeichelte,
ihr sich selber lieb und werth machte, und sie mit
dem Zauber einer unübertreflich poetischen Darstel¬
lung beschönigte. Er ist nicht der Verführer, sondern
selbst verführt von seiner Zeit. Wie nach Schiller's
Gedicht jeder der olympischen Götter dem Genius
ein Zeichen aufdrückt, so hat die moderne Zeit ihren
Sohn und Liebling gezeichnet, jede herrschende Rich¬
tung dieser Zeit, jeder Abgott des Publikums hat
dem Dichterkönig einen Talisman verabreicht, und
wie die Mode das Volk beherrscht, so hat er die
Mode regiert.

Den feinsten Ton der heutigen Welt sucht und
findet man bei Göthe. Den äussern Anstand, die
Vornehmigkeit, die heitre Maske beim geselligen Um¬
gang, das Insinuante, die Delikatesse, die scheinhei¬
ligste Bosheit, die aqua toffana, die gleichsam als
kaltes Blut durch den Körper der gebildeten und vor¬
nehmen Gesellschaft kreist, diese Zauberkünste des
Talentes kann man bei Göthe musterhaft entwickelt
finden. Er bildet daher eine Schule der geselligen

und Sitte des Augenblicks. Schiller gilt fuͤr die Ed¬
len aller Zeiten, Goͤthe war der Abgott ſeiner Zeit,
und konnte dieß nur ſeyn, indem er ſich der Schwaͤche,
der Unnatur nicht minder hingab, als dem Edlen,
das ſich noch geltend zu machen wußte. Er iſt der
Abgott, aber auch das Geſchoͤpf ſeiner Zeit. Es iſt
gar nicht zu zweifeln, daß die Gemeinheit ihm ſelbſt
erſt geſchmeichelt, ſich ihm lieb und werth und ſogar
poetiſch dageſtellt hat, ehe er ihr ſelbſt ſchmeichelte,
ihr ſich ſelber lieb und werth machte, und ſie mit
dem Zauber einer unuͤbertreflich poetiſchen Darſtel¬
lung beſchoͤnigte. Er iſt nicht der Verfuͤhrer, ſondern
ſelbſt verfuͤhrt von ſeiner Zeit. Wie nach Schiller's
Gedicht jeder der olympiſchen Goͤtter dem Genius
ein Zeichen aufdruͤckt, ſo hat die moderne Zeit ihren
Sohn und Liebling gezeichnet, jede herrſchende Rich¬
tung dieſer Zeit, jeder Abgott des Publikums hat
dem Dichterkoͤnig einen Talisman verabreicht, und
wie die Mode das Volk beherrſcht, ſo hat er die
Mode regiert.

Den feinſten Ton der heutigen Welt ſucht und
findet man bei Goͤthe. Den aͤuſſern Anſtand, die
Vornehmigkeit, die heitre Maske beim geſelligen Um¬
gang, das Inſinuante, die Delikateſſe, die ſcheinhei¬
ligſte Bosheit, die aqua toffana, die gleichſam als
kaltes Blut durch den Koͤrper der gebildeten und vor¬
nehmen Geſellſchaft kreist, dieſe Zauberkuͤnſte des
Talentes kann man bei Goͤthe muſterhaft entwickelt
finden. Er bildet daher eine Schule der geſelligen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0228" n="218"/>
und Sitte des Augenblicks. Schiller gilt fu&#x0364;r die Ed¬<lb/>
len aller Zeiten, Go&#x0364;the war der Abgott &#x017F;einer Zeit,<lb/>
und konnte dieß nur &#x017F;eyn, indem er &#x017F;ich der Schwa&#x0364;che,<lb/>
der Unnatur nicht minder hingab, als dem Edlen,<lb/>
das &#x017F;ich noch geltend zu machen wußte. Er i&#x017F;t der<lb/>
Abgott, aber auch das Ge&#x017F;cho&#x0364;pf &#x017F;einer Zeit. Es i&#x017F;t<lb/>
gar nicht zu zweifeln, daß die Gemeinheit ihm &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
er&#x017F;t ge&#x017F;chmeichelt, &#x017F;ich ihm lieb und werth und &#x017F;ogar<lb/>
poeti&#x017F;ch dage&#x017F;tellt hat, ehe er ihr &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chmeichelte,<lb/>
ihr &#x017F;ich &#x017F;elber lieb und werth machte, und &#x017F;ie mit<lb/>
dem Zauber einer unu&#x0364;bertreflich poeti&#x017F;chen Dar&#x017F;tel¬<lb/>
lung be&#x017F;cho&#x0364;nigte. Er i&#x017F;t nicht der Verfu&#x0364;hrer, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t verfu&#x0364;hrt von &#x017F;einer Zeit. Wie nach Schiller's<lb/>
Gedicht jeder der olympi&#x017F;chen Go&#x0364;tter dem Genius<lb/>
ein Zeichen aufdru&#x0364;ckt, &#x017F;o hat die moderne Zeit ihren<lb/>
Sohn und Liebling gezeichnet, jede herr&#x017F;chende Rich¬<lb/>
tung die&#x017F;er Zeit, jeder Abgott des Publikums hat<lb/>
dem Dichterko&#x0364;nig einen Talisman verabreicht, und<lb/>
wie die Mode das Volk beherr&#x017F;cht, &#x017F;o hat er die<lb/>
Mode regiert.</p><lb/>
        <p>Den fein&#x017F;ten Ton der heutigen Welt &#x017F;ucht und<lb/>
findet man bei Go&#x0364;the. Den a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern An&#x017F;tand, die<lb/>
Vornehmigkeit, die heitre Maske beim ge&#x017F;elligen Um¬<lb/>
gang, das In&#x017F;inuante, die Delikate&#x017F;&#x017F;e, die &#x017F;cheinhei¬<lb/>
lig&#x017F;te Bosheit, die <hi rendition="#aq">aqua toffana</hi>, die gleich&#x017F;am als<lb/>
kaltes Blut durch den Ko&#x0364;rper der gebildeten und vor¬<lb/>
nehmen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft kreist, die&#x017F;e Zauberku&#x0364;n&#x017F;te des<lb/>
Talentes kann man bei Go&#x0364;the mu&#x017F;terhaft entwickelt<lb/>
finden. Er bildet daher eine Schule der ge&#x017F;elligen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0228] und Sitte des Augenblicks. Schiller gilt fuͤr die Ed¬ len aller Zeiten, Goͤthe war der Abgott ſeiner Zeit, und konnte dieß nur ſeyn, indem er ſich der Schwaͤche, der Unnatur nicht minder hingab, als dem Edlen, das ſich noch geltend zu machen wußte. Er iſt der Abgott, aber auch das Geſchoͤpf ſeiner Zeit. Es iſt gar nicht zu zweifeln, daß die Gemeinheit ihm ſelbſt erſt geſchmeichelt, ſich ihm lieb und werth und ſogar poetiſch dageſtellt hat, ehe er ihr ſelbſt ſchmeichelte, ihr ſich ſelber lieb und werth machte, und ſie mit dem Zauber einer unuͤbertreflich poetiſchen Darſtel¬ lung beſchoͤnigte. Er iſt nicht der Verfuͤhrer, ſondern ſelbſt verfuͤhrt von ſeiner Zeit. Wie nach Schiller's Gedicht jeder der olympiſchen Goͤtter dem Genius ein Zeichen aufdruͤckt, ſo hat die moderne Zeit ihren Sohn und Liebling gezeichnet, jede herrſchende Rich¬ tung dieſer Zeit, jeder Abgott des Publikums hat dem Dichterkoͤnig einen Talisman verabreicht, und wie die Mode das Volk beherrſcht, ſo hat er die Mode regiert. Den feinſten Ton der heutigen Welt ſucht und findet man bei Goͤthe. Den aͤuſſern Anſtand, die Vornehmigkeit, die heitre Maske beim geſelligen Um¬ gang, das Inſinuante, die Delikateſſe, die ſcheinhei¬ ligſte Bosheit, die aqua toffana, die gleichſam als kaltes Blut durch den Koͤrper der gebildeten und vor¬ nehmen Geſellſchaft kreist, dieſe Zauberkuͤnſte des Talentes kann man bei Goͤthe muſterhaft entwickelt finden. Er bildet daher eine Schule der geſelligen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/228
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/228>, abgerufen am 21.11.2024.