Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

stellt wie Schiller überall die Unschuld dem Laster
gegenüber, und das Recht dem Unrecht. Es ist fast
kein Gebrechen der Zeit, das sein Scharfblick nicht
entdeckt, vor dem sein liebevoller Sinn nicht freund¬
lich gewarnt, oder das sein geistreicher Spott nicht
treffend gegeißelt hätte. Es ist aber auch nichts Un¬
schuldiges und Schönes, und keine Tugend dieser Zeit,
die Jean Paul nicht erkannt und in rührenden Bil¬
dern zu Mustern aufgestellt hätte. Er fand an allem
die lichte und die dunkle Seite heraus, und es giebt
wenige Zeitgenossen, die ihre Zeit so fein beobachtet
und so richtig gewürdigt haben.

Manche finden diesen liebenswürdigen Dichter
zu weich und weiblich, und ärgern sich an seinen zu
häufigen Rührungen. Es ist wahr, sein weiches Herz
schwärmt zuweilen, und seine Empfindung leidet nicht
selten an übertriebner krankhafter Reizbarkeit; doch
überläßt er sich dieser süßen Melancholie nur dann,
wenn er ungestört für sich empfindet, und sie weicht
einer tüchtigen männlichen Erhebung sogleich, wenn
ihn eine höhere Idee aufruft, zu belehren oder zu
strafen. Von Natur weich geschaffen, wird er doch
männlich stark durch jede fromme und sittliche Idee,
und dann fehlt ihm nie die Leidenschaft der Tugend,
die edle Zornesgluth und die rücksichtslose Wahrheits¬
liebe. Die ihm angeborne Sanftmuth aber erzeugt
bei ihm eine Toleranz, wie sie in unsrer Zeit sehr
selten geworden ist, jene Duldung nämlich, die ohne
indifferent zu seyn, doch über alle Parteiungen hin¬

Deutsche Literatur. II. 11

ſtellt wie Schiller uͤberall die Unſchuld dem Laſter
gegenuͤber, und das Recht dem Unrecht. Es iſt faſt
kein Gebrechen der Zeit, das ſein Scharfblick nicht
entdeckt, vor dem ſein liebevoller Sinn nicht freund¬
lich gewarnt, oder das ſein geiſtreicher Spott nicht
treffend gegeißelt haͤtte. Es iſt aber auch nichts Un¬
ſchuldiges und Schoͤnes, und keine Tugend dieſer Zeit,
die Jean Paul nicht erkannt und in ruͤhrenden Bil¬
dern zu Muſtern aufgeſtellt haͤtte. Er fand an allem
die lichte und die dunkle Seite heraus, und es giebt
wenige Zeitgenoſſen, die ihre Zeit ſo fein beobachtet
und ſo richtig gewuͤrdigt haben.

Manche finden dieſen liebenswuͤrdigen Dichter
zu weich und weiblich, und aͤrgern ſich an ſeinen zu
haͤufigen Ruͤhrungen. Es iſt wahr, ſein weiches Herz
ſchwaͤrmt zuweilen, und ſeine Empfindung leidet nicht
ſelten an uͤbertriebner krankhafter Reizbarkeit; doch
uͤberlaͤßt er ſich dieſer ſuͤßen Melancholie nur dann,
wenn er ungeſtoͤrt fuͤr ſich empfindet, und ſie weicht
einer tuͤchtigen maͤnnlichen Erhebung ſogleich, wenn
ihn eine hoͤhere Idee aufruft, zu belehren oder zu
ſtrafen. Von Natur weich geſchaffen, wird er doch
maͤnnlich ſtark durch jede fromme und ſittliche Idee,
und dann fehlt ihm nie die Leidenſchaft der Tugend,
die edle Zornesgluth und die ruͤckſichtsloſe Wahrheits¬
liebe. Die ihm angeborne Sanftmuth aber erzeugt
bei ihm eine Toleranz, wie ſie in unſrer Zeit ſehr
ſelten geworden iſt, jene Duldung naͤmlich, die ohne
indifferent zu ſeyn, doch uͤber alle Parteiungen hin¬

Deutſche Literatur. II. 11
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0251" n="241"/>
&#x017F;tellt wie Schiller u&#x0364;berall die Un&#x017F;chuld dem La&#x017F;ter<lb/>
gegenu&#x0364;ber, und das Recht dem Unrecht. Es i&#x017F;t fa&#x017F;t<lb/>
kein Gebrechen der Zeit, das &#x017F;ein Scharfblick nicht<lb/>
entdeckt, vor dem &#x017F;ein liebevoller Sinn nicht freund¬<lb/>
lich gewarnt, oder das &#x017F;ein gei&#x017F;treicher Spott nicht<lb/>
treffend gegeißelt ha&#x0364;tte. Es i&#x017F;t aber auch nichts Un¬<lb/>
&#x017F;chuldiges und Scho&#x0364;nes, und keine Tugend die&#x017F;er Zeit,<lb/>
die Jean Paul nicht erkannt und in ru&#x0364;hrenden Bil¬<lb/>
dern zu Mu&#x017F;tern aufge&#x017F;tellt ha&#x0364;tte. Er fand an allem<lb/>
die lichte und die dunkle Seite heraus, und es giebt<lb/>
wenige Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en, die ihre Zeit &#x017F;o fein beobachtet<lb/>
und &#x017F;o richtig gewu&#x0364;rdigt haben.</p><lb/>
        <p>Manche finden die&#x017F;en liebenswu&#x0364;rdigen Dichter<lb/>
zu weich und weiblich, und a&#x0364;rgern &#x017F;ich an &#x017F;einen zu<lb/>
ha&#x0364;ufigen Ru&#x0364;hrungen. Es i&#x017F;t wahr, &#x017F;ein weiches Herz<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;rmt zuweilen, und &#x017F;eine Empfindung leidet nicht<lb/>
&#x017F;elten an u&#x0364;bertriebner krankhafter Reizbarkeit; doch<lb/>
u&#x0364;berla&#x0364;ßt er &#x017F;ich die&#x017F;er &#x017F;u&#x0364;ßen Melancholie nur dann,<lb/>
wenn er unge&#x017F;to&#x0364;rt fu&#x0364;r &#x017F;ich empfindet, und &#x017F;ie weicht<lb/>
einer tu&#x0364;chtigen ma&#x0364;nnlichen Erhebung &#x017F;ogleich, wenn<lb/>
ihn eine ho&#x0364;here Idee aufruft, zu belehren oder zu<lb/>
&#x017F;trafen. Von Natur weich ge&#x017F;chaffen, wird er doch<lb/>
ma&#x0364;nnlich &#x017F;tark durch jede fromme und &#x017F;ittliche Idee,<lb/>
und dann fehlt ihm nie die Leiden&#x017F;chaft der Tugend,<lb/>
die edle Zornesgluth und die ru&#x0364;ck&#x017F;ichtslo&#x017F;e Wahrheits¬<lb/>
liebe. Die ihm angeborne Sanftmuth aber erzeugt<lb/>
bei ihm eine Toleranz, wie &#x017F;ie in un&#x017F;rer Zeit &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;elten geworden i&#x017F;t, jene Duldung na&#x0364;mlich, die ohne<lb/>
indifferent zu &#x017F;eyn, doch u&#x0364;ber alle Parteiungen hin¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Deut&#x017F;che Literatur. <hi rendition="#aq">II</hi>. 11<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0251] ſtellt wie Schiller uͤberall die Unſchuld dem Laſter gegenuͤber, und das Recht dem Unrecht. Es iſt faſt kein Gebrechen der Zeit, das ſein Scharfblick nicht entdeckt, vor dem ſein liebevoller Sinn nicht freund¬ lich gewarnt, oder das ſein geiſtreicher Spott nicht treffend gegeißelt haͤtte. Es iſt aber auch nichts Un¬ ſchuldiges und Schoͤnes, und keine Tugend dieſer Zeit, die Jean Paul nicht erkannt und in ruͤhrenden Bil¬ dern zu Muſtern aufgeſtellt haͤtte. Er fand an allem die lichte und die dunkle Seite heraus, und es giebt wenige Zeitgenoſſen, die ihre Zeit ſo fein beobachtet und ſo richtig gewuͤrdigt haben. Manche finden dieſen liebenswuͤrdigen Dichter zu weich und weiblich, und aͤrgern ſich an ſeinen zu haͤufigen Ruͤhrungen. Es iſt wahr, ſein weiches Herz ſchwaͤrmt zuweilen, und ſeine Empfindung leidet nicht ſelten an uͤbertriebner krankhafter Reizbarkeit; doch uͤberlaͤßt er ſich dieſer ſuͤßen Melancholie nur dann, wenn er ungeſtoͤrt fuͤr ſich empfindet, und ſie weicht einer tuͤchtigen maͤnnlichen Erhebung ſogleich, wenn ihn eine hoͤhere Idee aufruft, zu belehren oder zu ſtrafen. Von Natur weich geſchaffen, wird er doch maͤnnlich ſtark durch jede fromme und ſittliche Idee, und dann fehlt ihm nie die Leidenſchaft der Tugend, die edle Zornesgluth und die ruͤckſichtsloſe Wahrheits¬ liebe. Die ihm angeborne Sanftmuth aber erzeugt bei ihm eine Toleranz, wie ſie in unſrer Zeit ſehr ſelten geworden iſt, jene Duldung naͤmlich, die ohne indifferent zu ſeyn, doch uͤber alle Parteiungen hin¬ Deutſche Literatur. II. 11

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/251
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/251>, abgerufen am 22.11.2024.