der Roman ins Überschwengliche und fällt an den äußersten Gränzen der poetischen Darstellung unpoeti¬ scher Gegenstände entweder ins Wasser des Lehrge¬ dichts, oder kehrt aus den luftigen Räumen der Phi¬ losophie auf den festen Boden der Wirklichkeit zu¬ rück, und hier findet er einen eben so freien und si¬ chern, als unermeßlichen Spielraum in der Geschichte. Die Geschichte bereitet dem Dichter die Ideen und Begriffe der Philosophie schon auf eine poetische Weise zu. Sie verkörpert ihm die Philosophie, und wenn die Philophie im Grunde genommen nichts weiter ist, als die Abstraction von den in Natur und Ge¬ schichte gegebnen Thatsachen, so thut die Poesie sehr wohl daran, ihren Gegenstand aus der ersten Hand zu nehmen.
Wir wollen diese Hauptgattungen unsrer Ro¬ mane nun nach der Reihe näher betrachten. Zuerst den eigentlichen Liebesroman, den lyrischen. Er ist der älteste, und hängt sowohl mit den lyrischen Anfängen der neuen deutschen Poesie überhaupt, als auch mit den französisch-italienischen Mustern zusam¬ men denen damals noch die deutschen Dichter folg¬ ten. Selbst Wieland und Göthe sind vom Einfluß des Boccaccio, Voltaire und Rousseau noch nicht frei, und der ganze Geschmack an Liebesromanen läßt sich auf einen noch ältern Ursprung im Mittelalter zurück¬ führen. Der Tristan ist die heilige, reine Quelle des gewaltigen, nachher so trüb und breit im Sande ver¬ laufenen Stromes.
der Roman ins Überſchwengliche und faͤllt an den aͤußerſten Graͤnzen der poetiſchen Darſtellung unpoeti¬ ſcher Gegenſtaͤnde entweder ins Waſſer des Lehrge¬ dichts, oder kehrt aus den luftigen Raͤumen der Phi¬ loſophie auf den feſten Boden der Wirklichkeit zu¬ ruͤck, und hier findet er einen eben ſo freien und ſi¬ chern, als unermeßlichen Spielraum in der Geſchichte. Die Geſchichte bereitet dem Dichter die Ideen und Begriffe der Philoſophie ſchon auf eine poetiſche Weiſe zu. Sie verkoͤrpert ihm die Philoſophie, und wenn die Philophie im Grunde genommen nichts weiter iſt, als die Abſtraction von den in Natur und Ge¬ ſchichte gegebnen Thatſachen, ſo thut die Poeſie ſehr wohl daran, ihren Gegenſtand aus der erſten Hand zu nehmen.
Wir wollen dieſe Hauptgattungen unſrer Ro¬ mane nun nach der Reihe naͤher betrachten. Zuerſt den eigentlichen Liebesroman, den lyriſchen. Er iſt der aͤlteſte, und haͤngt ſowohl mit den lyriſchen Anfaͤngen der neuen deutſchen Poeſie uͤberhaupt, als auch mit den franzoͤſiſch-italieniſchen Muſtern zuſam¬ men denen damals noch die deutſchen Dichter folg¬ ten. Selbſt Wieland und Goͤthe ſind vom Einfluß des Boccaccio, Voltaire und Rouſſeau noch nicht frei, und der ganze Geſchmack an Liebesromanen laͤßt ſich auf einen noch aͤltern Urſprung im Mittelalter zuruͤck¬ fuͤhren. Der Triſtan iſt die heilige, reine Quelle des gewaltigen, nachher ſo truͤb und breit im Sande ver¬ laufenen Stromes.
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der Roman ins Überſchwengliche und faͤllt an den
aͤußerſten Graͤnzen der poetiſchen Darſtellung unpoeti¬
ſcher Gegenſtaͤnde entweder ins Waſſer des Lehrge¬
dichts, oder kehrt aus den luftigen Raͤumen der Phi¬
loſophie auf den feſten Boden der Wirklichkeit zu¬
ruͤck, und hier findet er einen eben ſo freien und ſi¬
chern, als unermeßlichen Spielraum in der Geſchichte.
Die Geſchichte bereitet dem Dichter die Ideen und
Begriffe der Philoſophie ſchon auf eine poetiſche Weiſe
zu. Sie verkoͤrpert ihm die Philoſophie, und wenn
die Philophie im Grunde genommen nichts weiter
iſt, als die Abſtraction von den in Natur und Ge¬
ſchichte gegebnen Thatſachen, ſo thut die Poeſie ſehr
wohl daran, ihren Gegenſtand aus der erſten Hand
zu nehmen.
Wir wollen dieſe Hauptgattungen unſrer Ro¬
mane nun nach der Reihe naͤher betrachten. Zuerſt
den eigentlichen Liebesroman, den lyriſchen. Er
iſt der aͤlteſte, und haͤngt ſowohl mit den lyriſchen
Anfaͤngen der neuen deutſchen Poeſie uͤberhaupt, als
auch mit den franzoͤſiſch-italieniſchen Muſtern zuſam¬
men denen damals noch die deutſchen Dichter folg¬
ten. Selbſt Wieland und Goͤthe ſind vom Einfluß
des Boccaccio, Voltaire und Rouſſeau noch nicht frei,
und der ganze Geſchmack an Liebesromanen laͤßt ſich
auf einen noch aͤltern Urſprung im Mittelalter zuruͤck¬
fuͤhren. Der Triſtan iſt die heilige, reine Quelle des
gewaltigen, nachher ſo truͤb und breit im Sande ver¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/284>, abgerufen am 25.11.2024.
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