Im Allgemeinen scheiden sich die kritischen Zeit¬ schriften in gelehrte und belletristische, und die ge¬ lehrten wieder nach besondern wissenschaftlichen Fä¬ chern in theologische, medicinische, pädagogische, ju¬ ridische etc. Der im Anfang dieses Buchs berührte Unterschied der Gelehrten und Naturalisten herrscht in der kritischen Literatur noch auffallend vor, und gerade hier ist er am schädlichsten. In der Kritik wenigstens sollte der Geist der Nation sich selbstän¬ dig über die innern Unterschiede und Spaltungen in der Bildung und den Meinungen erheben. Hier soll¬ ten den Laien die Resultate der Wissenschaft, und den Stubengelehrten das Leben und die Poesie ver¬ mittelt werden. Die Kritik sollte alles für alle wür¬ digen. Dazu ist ihr eine selbständige Literatur ange¬ wiesen. In ihr, wie in einem großen Spiegel sollte die Nation sich selbst betrachten und in einem klaren Überblick alle Wirkungen ihres Geistes kennen und schätzen lernen. Freilich fehlt uns noch das Publi¬ kum, das sich für alles interessiren könnte; der Ge¬ lehrte hier, die ästhetische Dame dort haben das dritte Element noch nicht gefunden, in dem sie sich verstän¬ digen könnten. Wer von der galanten Welt mag die gelehrten Noten in den Literaturzeitungen, und wer von den Gelehrten mag das ästhetelnde Geklatsch in den belletristischen Blättern lesen? Aber es sollte eben eine höhere, nationelle Kritik geben, die weder jene Noten für den blos Gelehrten, noch dieses Ge¬ klatsch für bloße Weiber und Stutzer, sondern eine
Im Allgemeinen ſcheiden ſich die kritiſchen Zeit¬ ſchriften in gelehrte und belletriſtiſche, und die ge¬ lehrten wieder nach beſondern wiſſenſchaftlichen Faͤ¬ chern in theologiſche, mediciniſche, paͤdagogiſche, ju¬ ridiſche ꝛc. Der im Anfang dieſes Buchs beruͤhrte Unterſchied der Gelehrten und Naturaliſten herrſcht in der kritiſchen Literatur noch auffallend vor, und gerade hier iſt er am ſchaͤdlichſten. In der Kritik wenigſtens ſollte der Geiſt der Nation ſich ſelbſtaͤn¬ dig uͤber die innern Unterſchiede und Spaltungen in der Bildung und den Meinungen erheben. Hier ſoll¬ ten den Laien die Reſultate der Wiſſenſchaft, und den Stubengelehrten das Leben und die Poeſie ver¬ mittelt werden. Die Kritik ſollte alles fuͤr alle wuͤr¬ digen. Dazu iſt ihr eine ſelbſtaͤndige Literatur ange¬ wieſen. In ihr, wie in einem großen Spiegel ſollte die Nation ſich ſelbſt betrachten und in einem klaren Überblick alle Wirkungen ihres Geiſtes kennen und ſchaͤtzen lernen. Freilich fehlt uns noch das Publi¬ kum, das ſich fuͤr alles intereſſiren koͤnnte; der Ge¬ lehrte hier, die aͤſthetiſche Dame dort haben das dritte Element noch nicht gefunden, in dem ſie ſich verſtaͤn¬ digen koͤnnten. Wer von der galanten Welt mag die gelehrten Noten in den Literaturzeitungen, und wer von den Gelehrten mag das aͤſthetelnde Geklatſch in den belletriſtiſchen Blaͤttern leſen? Aber es ſollte eben eine hoͤhere, nationelle Kritik geben, die weder jene Noten fuͤr den blos Gelehrten, noch dieſes Ge¬ klatſch fuͤr bloße Weiber und Stutzer, ſondern eine
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Im Allgemeinen ſcheiden ſich die kritiſchen Zeit¬
ſchriften in gelehrte und belletriſtiſche, und die ge¬
lehrten wieder nach beſondern wiſſenſchaftlichen Faͤ¬
chern in theologiſche, mediciniſche, paͤdagogiſche, ju¬
ridiſche ꝛc. Der im Anfang dieſes Buchs beruͤhrte
Unterſchied der Gelehrten und Naturaliſten herrſcht
in der kritiſchen Literatur noch auffallend vor, und
gerade hier iſt er am ſchaͤdlichſten. In der Kritik
wenigſtens ſollte der Geiſt der Nation ſich ſelbſtaͤn¬
dig uͤber die innern Unterſchiede und Spaltungen in
der Bildung und den Meinungen erheben. Hier ſoll¬
ten den Laien die Reſultate der Wiſſenſchaft, und
den Stubengelehrten das Leben und die Poeſie ver¬
mittelt werden. Die Kritik ſollte alles fuͤr alle wuͤr¬
digen. Dazu iſt ihr eine ſelbſtaͤndige Literatur ange¬
wieſen. In ihr, wie in einem großen Spiegel ſollte
die Nation ſich ſelbſt betrachten und in einem klaren
Überblick alle Wirkungen ihres Geiſtes kennen und
ſchaͤtzen lernen. Freilich fehlt uns noch das Publi¬
kum, das ſich fuͤr alles intereſſiren koͤnnte; der Ge¬
lehrte hier, die aͤſthetiſche Dame dort haben das dritte
Element noch nicht gefunden, in dem ſie ſich verſtaͤn¬
digen koͤnnten. Wer von der galanten Welt mag
die gelehrten Noten in den Literaturzeitungen, und
wer von den Gelehrten mag das aͤſthetelnde Geklatſch
in den belletriſtiſchen Blaͤttern leſen? Aber es ſollte
eben eine hoͤhere, nationelle Kritik geben, die weder
jene Noten fuͤr den blos Gelehrten, noch dieſes Ge¬
klatſch fuͤr bloße Weiber und Stutzer, ſondern eine
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/303>, abgerufen am 27.11.2024.
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