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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Im Ganzen ist dieses löbliche Bestreben noch nicht
weit gediehen. Die Philosophen stehn den technischen
Empirikern entgegen. Jene wollen die Kunst aus ei¬
ner Idee des Schönen oder aus dem Organ des
menschlichen Kunsttriebes herleiten; diese ziehen aus
der Erfahrung, aus den Kunstschätzen, Regeln ab,
die so unvollkommen oder unzusammenhängend sind,
wie die noch nie vollendete Kunstwelt selbst. Jene
wollen den Künstler belehren, nicht von ihm lernen,
und sie kommen immer nur von der Philosophie zur
Ästhetik, wie umgekehrt. Alle wollen das Schöne
aus dem Zusammenhang der übrigen Welt erklären,
noch keiner ist vom Schönen ausgegangen und hat
aus ihm auf das Übrige geschlossen. Die Empiriker
dagegen lassen die Philosophie auf sich beruhn und
bleiben bei Thatsachen stehn, die immer etwas Frag¬
mentarisches bleiben, so lange die Kunstwelt nicht
vollendet ist.

Wer den guten Geschmack, oder nur den deut¬
schen, aus unsern Lehrbüchern der Ästhetik kennen
lernen wollte, würde fehl gehn. Ich will nicht sa¬
gen, daß ein andres Volk bessere Lehrbücher besitzt,
ich halte vielmehr alles, was dafür von Aristoteles
bis auf Gripenkerl geleistet worden, verhältnißmäßig
für sehr unerheblich. Denn, wenn auch Einzelne tiefe
Blicke in das Wesen der Kunst gethan, so sind da¬
durch nur Schlaglichter in das dunkle Land geworfen
worden, und an eine allgemeine Aufklärung ist noch
nicht zu denken gewesen. Das Beste, was über die

Im Ganzen iſt dieſes loͤbliche Beſtreben noch nicht
weit gediehen. Die Philoſophen ſtehn den techniſchen
Empirikern entgegen. Jene wollen die Kunſt aus ei¬
ner Idee des Schoͤnen oder aus dem Organ des
menſchlichen Kunſttriebes herleiten; dieſe ziehen aus
der Erfahrung, aus den Kunſtſchaͤtzen, Regeln ab,
die ſo unvollkommen oder unzuſammenhaͤngend ſind,
wie die noch nie vollendete Kunſtwelt ſelbſt. Jene
wollen den Kuͤnſtler belehren, nicht von ihm lernen,
und ſie kommen immer nur von der Philoſophie zur
Äſthetik, wie umgekehrt. Alle wollen das Schoͤne
aus dem Zuſammenhang der uͤbrigen Welt erklaͤren,
noch keiner iſt vom Schoͤnen ausgegangen und hat
aus ihm auf das Übrige geſchloſſen. Die Empiriker
dagegen laſſen die Philoſophie auf ſich beruhn und
bleiben bei Thatſachen ſtehn, die immer etwas Frag¬
mentariſches bleiben, ſo lange die Kunſtwelt nicht
vollendet iſt.

Wer den guten Geſchmack, oder nur den deut¬
ſchen, aus unſern Lehrbuͤchern der Äſthetik kennen
lernen wollte, wuͤrde fehl gehn. Ich will nicht ſa¬
gen, daß ein andres Volk beſſere Lehrbuͤcher beſitzt,
ich halte vielmehr alles, was dafuͤr von Ariſtoteles
bis auf Gripenkerl geleiſtet worden, verhaͤltnißmaͤßig
fuͤr ſehr unerheblich. Denn, wenn auch Einzelne tiefe
Blicke in das Weſen der Kunſt gethan, ſo ſind da¬
durch nur Schlaglichter in das dunkle Land geworfen
worden, und an eine allgemeine Aufklaͤrung iſt noch
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[48/0058] Im Ganzen iſt dieſes loͤbliche Beſtreben noch nicht weit gediehen. Die Philoſophen ſtehn den techniſchen Empirikern entgegen. Jene wollen die Kunſt aus ei¬ ner Idee des Schoͤnen oder aus dem Organ des menſchlichen Kunſttriebes herleiten; dieſe ziehen aus der Erfahrung, aus den Kunſtſchaͤtzen, Regeln ab, die ſo unvollkommen oder unzuſammenhaͤngend ſind, wie die noch nie vollendete Kunſtwelt ſelbſt. Jene wollen den Kuͤnſtler belehren, nicht von ihm lernen, und ſie kommen immer nur von der Philoſophie zur Äſthetik, wie umgekehrt. Alle wollen das Schoͤne aus dem Zuſammenhang der uͤbrigen Welt erklaͤren, noch keiner iſt vom Schoͤnen ausgegangen und hat aus ihm auf das Übrige geſchloſſen. Die Empiriker dagegen laſſen die Philoſophie auf ſich beruhn und bleiben bei Thatſachen ſtehn, die immer etwas Frag¬ mentariſches bleiben, ſo lange die Kunſtwelt nicht vollendet iſt. Wer den guten Geſchmack, oder nur den deut¬ ſchen, aus unſern Lehrbuͤchern der Äſthetik kennen lernen wollte, wuͤrde fehl gehn. Ich will nicht ſa¬ gen, daß ein andres Volk beſſere Lehrbuͤcher beſitzt, ich halte vielmehr alles, was dafuͤr von Ariſtoteles bis auf Gripenkerl geleiſtet worden, verhaͤltnißmaͤßig fuͤr ſehr unerheblich. Denn, wenn auch Einzelne tiefe Blicke in das Weſen der Kunſt gethan, ſo ſind da¬ durch nur Schlaglichter in das dunkle Land geworfen worden, und an eine allgemeine Aufklaͤrung iſt noch nicht zu denken geweſen. Das Beſte, was uͤber die

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/58>, abgerufen am 20.05.2024.