das Publikum in ein gelehrtes und gemeines. Wir besitzen eine zahllose Menge von Dichtungen, die dem¬ jenigen nur Dunkelheiten enthalten, der nicht den ganzen Apparat mythologischer und historischer Kennt¬ nisse sich angeeignet hat, den ihr Verständniß erfordert.
Indem wir ferner alle Nationen in der Runde nachgeahmt haben, und die größten Schönheiten die¬ ser Nachahmungen gerade in der Aneignung der na¬ tionellsten Eigenthümlichkeiten bestehen, erfordert der Genuß derselben auch eine genauere Bekanntschaft mit diesen Völkern. Hierin unterscheiden sich die Dichter, wie das Publikum. Die örtliche Lage hat einigen Einfluß. Die vorzüglichsten Nachahmer der leichten französischen Manier, z.B. Wieland und in gewissem Sinn auch Göthe, waren Westdeutsche; die Nach¬ ahmer der Engländer sämmtlich Norddeutsche. Auch die Zeit macht hierin einigen Unterschied. Man kennt den Wechsel der Gallomanie, Anglomanie etc.
Wir haben über den Einfluß sowohl der Schul¬ gelehrsamkeit als der fremden Literatur im Eingang dieses Werks uns schon im Allgemeinen ausgespro¬ chen. Auch die Poesie ist diesem Einfluß unterwor¬ fen und entlehnt daher eine Menge ihrer Unter¬ schiede. Wichtiger aber noch, als diese, sind die Unterschiede, die aus der religiösen und philoso¬ phischen Denkweise auf die Schöpfungen der Poesie und auf den Geschmack an denselben übergehen. Wir Deutschen weichen in unsrer Art zu fühlen, zu den¬ ken und zu glauben so wesentlich von einander ab,
das Publikum in ein gelehrtes und gemeines. Wir beſitzen eine zahlloſe Menge von Dichtungen, die dem¬ jenigen nur Dunkelheiten enthalten, der nicht den ganzen Apparat mythologiſcher und hiſtoriſcher Kennt¬ niſſe ſich angeeignet hat, den ihr Verſtaͤndniß erfordert.
Indem wir ferner alle Nationen in der Runde nachgeahmt haben, und die groͤßten Schoͤnheiten die¬ ſer Nachahmungen gerade in der Aneignung der na¬ tionellſten Eigenthuͤmlichkeiten beſtehen, erfordert der Genuß derſelben auch eine genauere Bekanntſchaft mit dieſen Voͤlkern. Hierin unterſcheiden ſich die Dichter, wie das Publikum. Die oͤrtliche Lage hat einigen Einfluß. Die vorzuͤglichſten Nachahmer der leichten franzoͤſiſchen Manier, z.B. Wieland und in gewiſſem Sinn auch Goͤthe, waren Weſtdeutſche; die Nach¬ ahmer der Englaͤnder ſaͤmmtlich Norddeutſche. Auch die Zeit macht hierin einigen Unterſchied. Man kennt den Wechſel der Gallomanie, Anglomanie ꝛc.
Wir haben uͤber den Einfluß ſowohl der Schul¬ gelehrſamkeit als der fremden Literatur im Eingang dieſes Werks uns ſchon im Allgemeinen ausgeſpro¬ chen. Auch die Poeſie iſt dieſem Einfluß unterwor¬ fen und entlehnt daher eine Menge ihrer Unter¬ ſchiede. Wichtiger aber noch, als dieſe, ſind die Unterſchiede, die aus der religioͤſen und philoſo¬ phiſchen Denkweiſe auf die Schoͤpfungen der Poeſie und auf den Geſchmack an denſelben uͤbergehen. Wir Deutſchen weichen in unſrer Art zu fuͤhlen, zu den¬ ken und zu glauben ſo weſentlich von einander ab,
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das Publikum in ein gelehrtes und gemeines. Wir
beſitzen eine zahlloſe Menge von Dichtungen, die dem¬
jenigen nur Dunkelheiten enthalten, der nicht den
ganzen Apparat mythologiſcher und hiſtoriſcher Kennt¬
niſſe ſich angeeignet hat, den ihr Verſtaͤndniß erfordert.
Indem wir ferner alle Nationen in der Runde
nachgeahmt haben, und die groͤßten Schoͤnheiten die¬
ſer Nachahmungen gerade in der Aneignung der na¬
tionellſten Eigenthuͤmlichkeiten beſtehen, erfordert der
Genuß derſelben auch eine genauere Bekanntſchaft mit
dieſen Voͤlkern. Hierin unterſcheiden ſich die Dichter,
wie das Publikum. Die oͤrtliche Lage hat einigen
Einfluß. Die vorzuͤglichſten Nachahmer der leichten
franzoͤſiſchen Manier, z.B. Wieland und in gewiſſem
Sinn auch Goͤthe, waren Weſtdeutſche; die Nach¬
ahmer der Englaͤnder ſaͤmmtlich Norddeutſche. Auch
die Zeit macht hierin einigen Unterſchied. Man kennt
den Wechſel der Gallomanie, Anglomanie ꝛc.
Wir haben uͤber den Einfluß ſowohl der Schul¬
gelehrſamkeit als der fremden Literatur im Eingang
dieſes Werks uns ſchon im Allgemeinen ausgeſpro¬
chen. Auch die Poeſie iſt dieſem Einfluß unterwor¬
fen und entlehnt daher eine Menge ihrer Unter¬
ſchiede. Wichtiger aber noch, als dieſe, ſind die
Unterſchiede, die aus der religioͤſen und philoſo¬
phiſchen Denkweiſe auf die Schoͤpfungen der Poeſie
und auf den Geſchmack an denſelben uͤbergehen. Wir
Deutſchen weichen in unſrer Art zu fuͤhlen, zu den¬
ken und zu glauben ſo weſentlich von einander ab,
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/78>, abgerufen am 29.11.2024.
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