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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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weinerlicher Empfindsamkeit, vor öder Phantasterie,
und vor Schwulst und Unförmlichkeit bewahren.

Lessing's Wirksamkeit geht über den Kreis des
antiken Geschmacks hinaus. Sein universelles Genie
war für die verschiedensten Schulen zugleich thätig.
Er hob die deutsche Poesie gleichsam in ihrem gan¬
zen Umfang aus dem Schlamm ans Licht hervor.
Sein Verstand durchdrang alles, scheidete, reinigte,
bezeichnete die Fehler, die Regeln, den Abweg und
den rechten Weg.

Wieland that in seiner Art nicht weniger als
Lessing, indem er das den Deutschen angenehm und
leicht machte, was Lessing streng und oft mit Härte
verlangte. Darum fand er auch eben so viele Freunde,
als Lessing Feinde. Der antike Geist, der sich in
Lessing gleichsam kristallisirt hatte, floß in Wieland
leicht und behende dahin. Wieland war weniger um
ernste Strenge besorgt, er machte sichs leichter, aber
die Deutschen bedurften eines solchen Lehrers, der sie
nicht so anstrengte, wie Lessing. Sein großes un¬
sterbliches Verdienst bestand darin, daß er den Deut¬
schen zuerst einen Begriff von der griechischen Grazie
beibrachte und ihnen die alten steifen Glieder lenksam
und beweglich machte.

Die deutsche Poesie, wohl zur Minnezeit in ei¬
ner heitern leichten Grazie sich bewegend, war durch
die Meistersänger in steifleinenes Gewand, nach dem
dreißigjährigen Kriege in Allongeperücken und Reif¬
röcke versteckt worden, wußte schier nicht mehr, wo

weinerlicher Empfindſamkeit, vor oͤder Phantaſterie,
und vor Schwulſt und Unfoͤrmlichkeit bewahren.

Leſſing's Wirkſamkeit geht uͤber den Kreis des
antiken Geſchmacks hinaus. Sein univerſelles Genie
war fuͤr die verſchiedenſten Schulen zugleich thaͤtig.
Er hob die deutſche Poeſie gleichſam in ihrem gan¬
zen Umfang aus dem Schlamm ans Licht hervor.
Sein Verſtand durchdrang alles, ſcheidete, reinigte,
bezeichnete die Fehler, die Regeln, den Abweg und
den rechten Weg.

Wieland that in ſeiner Art nicht weniger als
Leſſing, indem er das den Deutſchen angenehm und
leicht machte, was Leſſing ſtreng und oft mit Haͤrte
verlangte. Darum fand er auch eben ſo viele Freunde,
als Leſſing Feinde. Der antike Geiſt, der ſich in
Leſſing gleichſam kriſtalliſirt hatte, floß in Wieland
leicht und behende dahin. Wieland war weniger um
ernſte Strenge beſorgt, er machte ſichs leichter, aber
die Deutſchen bedurften eines ſolchen Lehrers, der ſie
nicht ſo anſtrengte, wie Leſſing. Sein großes un¬
ſterbliches Verdienſt beſtand darin, daß er den Deut¬
ſchen zuerſt einen Begriff von der griechiſchen Grazie
beibrachte und ihnen die alten ſteifen Glieder lenkſam
und beweglich machte.

Die deutſche Poeſie, wohl zur Minnezeit in ei¬
ner heitern leichten Grazie ſich bewegend, war durch
die Meiſterſaͤnger in ſteifleinenes Gewand, nach dem
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roͤcke verſteckt worden, wußte ſchier nicht mehr, wo

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[87/0097] weinerlicher Empfindſamkeit, vor oͤder Phantaſterie, und vor Schwulſt und Unfoͤrmlichkeit bewahren. Leſſing's Wirkſamkeit geht uͤber den Kreis des antiken Geſchmacks hinaus. Sein univerſelles Genie war fuͤr die verſchiedenſten Schulen zugleich thaͤtig. Er hob die deutſche Poeſie gleichſam in ihrem gan¬ zen Umfang aus dem Schlamm ans Licht hervor. Sein Verſtand durchdrang alles, ſcheidete, reinigte, bezeichnete die Fehler, die Regeln, den Abweg und den rechten Weg. Wieland that in ſeiner Art nicht weniger als Leſſing, indem er das den Deutſchen angenehm und leicht machte, was Leſſing ſtreng und oft mit Haͤrte verlangte. Darum fand er auch eben ſo viele Freunde, als Leſſing Feinde. Der antike Geiſt, der ſich in Leſſing gleichſam kriſtalliſirt hatte, floß in Wieland leicht und behende dahin. Wieland war weniger um ernſte Strenge beſorgt, er machte ſichs leichter, aber die Deutſchen bedurften eines ſolchen Lehrers, der ſie nicht ſo anſtrengte, wie Leſſing. Sein großes un¬ ſterbliches Verdienſt beſtand darin, daß er den Deut¬ ſchen zuerſt einen Begriff von der griechiſchen Grazie beibrachte und ihnen die alten ſteifen Glieder lenkſam und beweglich machte. Die deutſche Poeſie, wohl zur Minnezeit in ei¬ ner heitern leichten Grazie ſich bewegend, war durch die Meiſterſaͤnger in ſteifleinenes Gewand, nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege in Allongeperuͤcken und Reif¬ roͤcke verſteckt worden, wußte ſchier nicht mehr, wo

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/97>, abgerufen am 27.11.2024.