Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese schreckliche Vermuthung, die ursprünglich
ihrem zahmen und frühe durch Klosterzucht geregelten
Gemüthe ferne lag -- Perpetua war keine schwerblütige
Bündnerin, sondern entstammte einer ehrbaren Zuger¬
familie -- hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch
vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das
Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬
gelegt. Er selbst war ganz davon durchdrungen, wie
von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch
diese Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war
der Schwester heute so kindlich weich und versöhnlich
erschienen, daß sie sich einen derartigen Verdacht als ein
Unrecht gegen das verwaiste Fräulein vorwarf.

In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬
gedanken. Sie sann mit einer Trauer, die ihre geheime
Süßigkeit hatte, den Erlebnissen ihrer Heimreise aus
Venedig nach. Ein seltsames Verhängniß hatte das
Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬
ben und sie hatte es erfahren, sie wußte heute mit voller
Herzensüberzeugung, daß sie es nicht nehmen dürfe.
Der Widerstreit ihrer Gefühle hatte sich gelegt, sie war
zur Ruhe gekommen.

Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen
Lucas, im Frühjahr verlassen und die lange Strecke
bis nahe an die Grafschaft Chiavenna erst über Verona

Dieſe ſchreckliche Vermuthung, die urſprünglich
ihrem zahmen und frühe durch Kloſterzucht geregelten
Gemüthe ferne lag — Perpetua war keine ſchwerblütige
Bündnerin, ſondern entſtammte einer ehrbaren Zuger¬
familie — hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch
vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das
Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬
gelegt. Er ſelbſt war ganz davon durchdrungen, wie
von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch
dieſe Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war
der Schweſter heute ſo kindlich weich und verſöhnlich
erſchienen, daß ſie ſich einen derartigen Verdacht als ein
Unrecht gegen das verwaiſte Fräulein vorwarf.

In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬
gedanken. Sie ſann mit einer Trauer, die ihre geheime
Süßigkeit hatte, den Erlebniſſen ihrer Heimreiſe aus
Venedig nach. Ein ſeltſames Verhängniß hatte das
Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬
ben und ſie hatte es erfahren, ſie wußte heute mit voller
Herzensüberzeugung, daß ſie es nicht nehmen dürfe.
Der Widerſtreit ihrer Gefühle hatte ſich gelegt, ſie war
zur Ruhe gekommen.

Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen
Lucas, im Frühjahr verlaſſen und die lange Strecke
bis nahe an die Grafſchaft Chiavenna erſt über Verona

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0228" n="218"/>
          <p>Die&#x017F;e &#x017F;chreckliche Vermuthung, die ur&#x017F;prünglich<lb/>
ihrem zahmen und frühe durch Klo&#x017F;terzucht geregelten<lb/>
Gemüthe ferne lag &#x2014; Perpetua war keine &#x017F;chwerblütige<lb/>
Bündnerin, &#x017F;ondern ent&#x017F;tammte einer ehrbaren Zuger¬<lb/>
familie &#x2014; hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch<lb/>
vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das<lb/>
Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬<lb/>
gelegt. Er &#x017F;elb&#x017F;t war ganz davon durchdrungen, wie<lb/>
von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch<lb/>
die&#x017F;e Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war<lb/>
der Schwe&#x017F;ter heute &#x017F;o kindlich weich und ver&#x017F;öhnlich<lb/>
er&#x017F;chienen, daß &#x017F;ie &#x017F;ich einen derartigen Verdacht als ein<lb/>
Unrecht gegen das verwai&#x017F;te Fräulein vorwarf.</p><lb/>
          <p>In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬<lb/>
gedanken. Sie &#x017F;ann mit einer Trauer, die ihre geheime<lb/>
Süßigkeit hatte, den Erlebni&#x017F;&#x017F;en ihrer Heimrei&#x017F;e aus<lb/>
Venedig nach. Ein &#x017F;elt&#x017F;ames Verhängniß hatte das<lb/>
Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬<lb/>
ben und &#x017F;ie hatte es erfahren, &#x017F;ie wußte heute mit voller<lb/>
Herzensüberzeugung, daß &#x017F;ie es nicht nehmen dürfe.<lb/>
Der Wider&#x017F;treit ihrer Gefühle hatte &#x017F;ich gelegt, &#x017F;ie war<lb/>
zur Ruhe gekommen.</p><lb/>
          <p>Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen<lb/>
Lucas, im Frühjahr verla&#x017F;&#x017F;en und die lange Strecke<lb/>
bis nahe an die Graf&#x017F;chaft Chiavenna er&#x017F;t über Verona<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0228] Dieſe ſchreckliche Vermuthung, die urſprünglich ihrem zahmen und frühe durch Kloſterzucht geregelten Gemüthe ferne lag — Perpetua war keine ſchwerblütige Bündnerin, ſondern entſtammte einer ehrbaren Zuger¬ familie — hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬ gelegt. Er ſelbſt war ganz davon durchdrungen, wie von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch dieſe Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war der Schweſter heute ſo kindlich weich und verſöhnlich erſchienen, daß ſie ſich einen derartigen Verdacht als ein Unrecht gegen das verwaiſte Fräulein vorwarf. In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬ gedanken. Sie ſann mit einer Trauer, die ihre geheime Süßigkeit hatte, den Erlebniſſen ihrer Heimreiſe aus Venedig nach. Ein ſeltſames Verhängniß hatte das Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬ ben und ſie hatte es erfahren, ſie wußte heute mit voller Herzensüberzeugung, daß ſie es nicht nehmen dürfe. Der Widerſtreit ihrer Gefühle hatte ſich gelegt, ſie war zur Ruhe gekommen. Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen Lucas, im Frühjahr verlaſſen und die lange Strecke bis nahe an die Grafſchaft Chiavenna erſt über Verona

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/228
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/228>, abgerufen am 23.11.2024.