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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder
und bemühte sich mit der hohlen Hand einen Trunk
daraus zu schöpfen. "Ich muß doch sehen," sagte sie,
"ob das bündnerische Bergwasser noch so gut schmeckt
wie in meiner Jugend!"

"Nicht!" warnte Jenatsch. "Ihr seid der eiskalten
Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, so mischt'
ich Euch einen gesunden Trunk mit ein paar feurigen
Weintropfen aus meiner Feldflasche."

Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus
ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und
ließ ihn in seine Hand gleiten. -- Es war das Becher¬
lein, daß ihr einst der Knabe zum Gegengeschenk für
ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach seiner Schule in
Zürich gemacht, und das sie nie von sich gelassen hatte.
Jürg erkannte es sogleich, umfing die Knieende und zog
sie mit einem innigen Kusse an seine Brust empor. Sie
sah ihn an, als wäre dieser einzige Augenblick ihr
ganzes Leben. Dann brachen ihr die Thränen mit
Macht hervor. "Das war zum letzten Male, Jürg,"
sagte sie mit gebrochener Stimme. "Jetzt mische mir
den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Ab¬
schiede! Dann laß meine Seele in Frieden!" --

Schweigend füllte er den Becher und sie tranken.

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aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder
und bemühte ſich mit der hohlen Hand einen Trunk
daraus zu ſchöpfen. „Ich muß doch ſehen,“ ſagte ſie,
„ob das bündneriſche Bergwaſſer noch ſo gut ſchmeckt
wie in meiner Jugend!“

„Nicht!“ warnte Jenatſch. „Ihr ſeid der eiskalten
Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, ſo miſcht'
ich Euch einen geſunden Trunk mit ein paar feurigen
Weintropfen aus meiner Feldflaſche.“

Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus
ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und
ließ ihn in ſeine Hand gleiten. — Es war das Becher¬
lein, daß ihr einſt der Knabe zum Gegengeſchenk für
ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach ſeiner Schule in
Zürich gemacht, und das ſie nie von ſich gelaſſen hatte.
Jürg erkannte es ſogleich, umfing die Knieende und zog
ſie mit einem innigen Kuſſe an ſeine Bruſt empor. Sie
ſah ihn an, als wäre dieſer einzige Augenblick ihr
ganzes Leben. Dann brachen ihr die Thränen mit
Macht hervor. „Das war zum letzten Male, Jürg,“
ſagte ſie mit gebrochener Stimme. „Jetzt miſche mir
den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Ab¬
ſchiede! Dann laß meine Seele in Frieden!“ —

Schweigend füllte er den Becher und ſie tranken.

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[227/0237] aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder und bemühte ſich mit der hohlen Hand einen Trunk daraus zu ſchöpfen. „Ich muß doch ſehen,“ ſagte ſie, „ob das bündneriſche Bergwaſſer noch ſo gut ſchmeckt wie in meiner Jugend!“ „Nicht!“ warnte Jenatſch. „Ihr ſeid der eiskalten Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, ſo miſcht' ich Euch einen geſunden Trunk mit ein paar feurigen Weintropfen aus meiner Feldflaſche.“ Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und ließ ihn in ſeine Hand gleiten. — Es war das Becher¬ lein, daß ihr einſt der Knabe zum Gegengeſchenk für ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach ſeiner Schule in Zürich gemacht, und das ſie nie von ſich gelaſſen hatte. Jürg erkannte es ſogleich, umfing die Knieende und zog ſie mit einem innigen Kuſſe an ſeine Bruſt empor. Sie ſah ihn an, als wäre dieſer einzige Augenblick ihr ganzes Leben. Dann brachen ihr die Thränen mit Macht hervor. „Das war zum letzten Male, Jürg,“ ſagte ſie mit gebrochener Stimme. „Jetzt miſche mir den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Ab¬ ſchiede! Dann laß meine Seele in Frieden!“ — Schweigend füllte er den Becher und ſie tranken. 15*

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/237>, abgerufen am 23.11.2024.