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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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wo der Berg sich zu senken begann, mit seinem bei
jedem Schritte gleitenden Thiere immer mehr hinter den
Andern zurück. Zuletzt versank er in eine vom Schnee
verrätherisch bedeckte Spalte aus welcher ihm der die
übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeit¬
verlust und Mühe heraushalf. Während dieser bei
dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, schritten Jenatsch
und Lucretia rüstig und allein bergab und überließen
sich der ungewohnten Lust, die Heimatluft in vollen
Zügen einzuathmen. Das Fräulein dachte nicht daran,
daß sie zum ersten Male auf der Reise mit Jenatsch
allein sei. Waren ihr doch, wenn sie still neben Jürg
einherritt, ihre beiden andern Begleiter -- der Loco¬
tenent, trotz seines unausgesetzten Bestrebens sich ange¬
nehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte
Knecht, trotz seiner unverholenen Rachegelüste, -- in gleich¬
giltige, unpersönliche Ferne getreten.

Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem
Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den sie
furchtsam sich hütete, mit einem an die grausame Gegen¬
wart erinnernden Worte zu zerstören.

Jetzt hatten sie das erste Grün über einem schma¬
len baumlosen Thale erreicht und setzten sich auf ein
besonntes Felsstück, um den zurückgebliebenen Locote¬
nenten zu erwarten. Ein Wässerchen quoll daneben

wo der Berg ſich zu ſenken begann, mit ſeinem bei
jedem Schritte gleitenden Thiere immer mehr hinter den
Andern zurück. Zuletzt verſank er in eine vom Schnee
verrätheriſch bedeckte Spalte aus welcher ihm der die
übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeit¬
verluſt und Mühe heraushalf. Während dieſer bei
dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, ſchritten Jenatſch
und Lucretia rüſtig und allein bergab und überließen
ſich der ungewohnten Luſt, die Heimatluft in vollen
Zügen einzuathmen. Das Fräulein dachte nicht daran,
daß ſie zum erſten Male auf der Reiſe mit Jenatſch
allein ſei. Waren ihr doch, wenn ſie ſtill neben Jürg
einherritt, ihre beiden andern Begleiter — der Loco¬
tenent, trotz ſeines unausgeſetzten Beſtrebens ſich ange¬
nehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte
Knecht, trotz ſeiner unverholenen Rachegelüſte, — in gleich¬
giltige, unperſönliche Ferne getreten.

Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem
Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den ſie
furchtſam ſich hütete, mit einem an die grauſame Gegen¬
wart erinnernden Worte zu zerſtören.

Jetzt hatten ſie das erſte Grün über einem ſchma¬
len baumloſen Thale erreicht und ſetzten ſich auf ein
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[226/0236] wo der Berg ſich zu ſenken begann, mit ſeinem bei jedem Schritte gleitenden Thiere immer mehr hinter den Andern zurück. Zuletzt verſank er in eine vom Schnee verrätheriſch bedeckte Spalte aus welcher ihm der die übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeit¬ verluſt und Mühe heraushalf. Während dieſer bei dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, ſchritten Jenatſch und Lucretia rüſtig und allein bergab und überließen ſich der ungewohnten Luſt, die Heimatluft in vollen Zügen einzuathmen. Das Fräulein dachte nicht daran, daß ſie zum erſten Male auf der Reiſe mit Jenatſch allein ſei. Waren ihr doch, wenn ſie ſtill neben Jürg einherritt, ihre beiden andern Begleiter — der Loco¬ tenent, trotz ſeines unausgeſetzten Beſtrebens ſich ange¬ nehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte Knecht, trotz ſeiner unverholenen Rachegelüſte, — in gleich¬ giltige, unperſönliche Ferne getreten. Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den ſie furchtſam ſich hütete, mit einem an die grauſame Gegen¬ wart erinnernden Worte zu zerſtören. Jetzt hatten ſie das erſte Grün über einem ſchma¬ len baumloſen Thale erreicht und ſetzten ſich auf ein beſonntes Felsſtück, um den zurückgebliebenen Locote¬ nenten zu erwarten. Ein Wäſſerchen quoll daneben

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/236>, abgerufen am 23.11.2024.