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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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Dann zogen sie langsam durch das von Wasserstürzen
rauschende Misox, das südlichste und schönste Thal des
Bündnerlandes. Ueber dem Bergdorfe San Bernardino
begann der Paß jäh zu steigen und führte zu dieser
frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke.
Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch südlicher
Bläue. Lucretia fühlte sich umweht von den kräftigen
Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke,
als sei sie in die fröhlichen Reisetage der Kindheit
zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr
aus einem seiner festen Häuser ins andere über die
Bergjoche des thälerreichen Bündens gezogen. Ihre
Augen suchten mit Ungeduld den kleinen Bergsee, der,
wie sie sich deutlich erinnerte, auf keiner der heimischen
Wasserscheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nörd¬
lichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den
heutigen scharfen Sonnenstrahlen aufgethaut. Gewiß
nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt spät
ein auf diesen Höhen trotz seiner täuschenden Vorboten
und das den Himmel spiegelnde Auge mußte sich unter
eisigen Stürmen wohl bald wieder schließen.

Auf der halb geschmolzenen Schneedecke kamen die
Pferde nur mühsam vorwärts. Die Bündner -- auch
Lucretia -- waren auf der Höhe abgestiegen, nur der
eigensinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb,

Meyer, Georg Jenatsch. 15

Dann zogen ſie langſam durch das von Waſſerſtürzen
rauſchende Miſox, das ſüdlichſte und ſchönſte Thal des
Bündnerlandes. Ueber dem Bergdorfe San Bernardino
begann der Paß jäh zu ſteigen und führte zu dieſer
frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke.
Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch ſüdlicher
Bläue. Lucretia fühlte ſich umweht von den kräftigen
Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke,
als ſei ſie in die fröhlichen Reiſetage der Kindheit
zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr
aus einem ſeiner feſten Häuſer ins andere über die
Bergjoche des thälerreichen Bündens gezogen. Ihre
Augen ſuchten mit Ungeduld den kleinen Bergſee, der,
wie ſie ſich deutlich erinnerte, auf keiner der heimiſchen
Waſſerſcheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nörd¬
lichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den
heutigen ſcharfen Sonnenſtrahlen aufgethaut. Gewiß
nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt ſpät
ein auf dieſen Höhen trotz ſeiner täuſchenden Vorboten
und das den Himmel ſpiegelnde Auge mußte ſich unter
eiſigen Stürmen wohl bald wieder ſchließen.

Auf der halb geſchmolzenen Schneedecke kamen die
Pferde nur mühſam vorwärts. Die Bündner — auch
Lucretia — waren auf der Höhe abgeſtiegen, nur der
eigenſinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb,

Meyer, Georg Jenatſch. 15
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[225/0235] Dann zogen ſie langſam durch das von Waſſerſtürzen rauſchende Miſox, das ſüdlichſte und ſchönſte Thal des Bündnerlandes. Ueber dem Bergdorfe San Bernardino begann der Paß jäh zu ſteigen und führte zu dieſer frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke. Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch ſüdlicher Bläue. Lucretia fühlte ſich umweht von den kräftigen Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke, als ſei ſie in die fröhlichen Reiſetage der Kindheit zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr aus einem ſeiner feſten Häuſer ins andere über die Bergjoche des thälerreichen Bündens gezogen. Ihre Augen ſuchten mit Ungeduld den kleinen Bergſee, der, wie ſie ſich deutlich erinnerte, auf keiner der heimiſchen Waſſerſcheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nörd¬ lichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den heutigen ſcharfen Sonnenſtrahlen aufgethaut. Gewiß nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt ſpät ein auf dieſen Höhen trotz ſeiner täuſchenden Vorboten und das den Himmel ſpiegelnde Auge mußte ſich unter eiſigen Stürmen wohl bald wieder ſchließen. Auf der halb geſchmolzenen Schneedecke kamen die Pferde nur mühſam vorwärts. Die Bündner — auch Lucretia — waren auf der Höhe abgeſtiegen, nur der eigenſinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb, Meyer, Georg Jenatſch. 15

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/235>, abgerufen am 27.11.2024.