Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.Thaten der Gnade. II. Stück. kenntniß hätten, und von Jugend auf dazunicht erzogen, und angeführet worden, bey solchen sey es wohl dahin nicht zu bringen. Nachdem ihr aber der HErr den Geist der Gnaden und des Gebets geschenket, so sehe sie nicht nur, wie möglich der Gnade alles sey, sondern sie käme nach und nach in den Stand, daß sie ganze Stunden lang aus ihrem Herzen beten könnte. Sie bezeugte, sie sey öfters (da sie in dem sehnlichen Su- chen nach der Gnade JEsu gestanden) ganze Stunden lang auf ihren Knien gelegen, sie habe allemahl in dem Anfange gemeynet, sie werde nichts oder wenig mit Worten dem Heylande vortragen, und ihn um seine Erbarmung bitten können, habe aber mei- stens einen solchen Aufschluß in ihrem Her- zen gefühlet, daß es sie gedünket, es quelle und fliesse alles Stromsweise hervor, und sie könne nie fertig werden, dem HErrn JEsu ihr Herze auszulähren. O wie beschämt sollten hierbey nicht vie- len!
Thaten der Gnade. II. Stuͤck. kenntniß haͤtten, und von Jugend auf dazunicht erzogen, und angefuͤhret worden, bey ſolchen ſey es wohl dahin nicht zu bringen. Nachdem ihr aber der HErr den Geiſt der Gnaden und des Gebets geſchenket, ſo ſehe ſie nicht nur, wie moͤglich der Gnade alles ſey, ſondern ſie kaͤme nach und nach in den Stand, daß ſie ganze Stunden lang aus ihrem Herzen beten koͤnnte. Sie bezeugte, ſie ſey oͤfters (da ſie in dem ſehnlichen Su- chen nach der Gnade JEſu geſtanden) ganze Stunden lang auf ihren Knien gelegen, ſie habe allemahl in dem Anfange gemeynet, ſie werde nichts oder wenig mit Worten dem Heylande vortragen, und ihn um ſeine Erbarmung bitten koͤnnen, habe aber mei- ſtens einen ſolchen Aufſchluß in ihrem Her- zen gefuͤhlet, daß es ſie geduͤnket, es quelle und flieſſe alles Stromsweiſe hervor, und ſie koͤnne nie fertig werden, dem HErrn JEſu ihr Herze auszulaͤhren. O wie beſchaͤmt ſollten hierbey nicht vie- len!
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Thaten der Gnade. II. Stuͤck.
kenntniß haͤtten, und von Jugend auf dazu
nicht erzogen, und angefuͤhret worden, bey
ſolchen ſey es wohl dahin nicht zu bringen.
Nachdem ihr aber der HErr den Geiſt der
Gnaden und des Gebets geſchenket, ſo ſehe
ſie nicht nur, wie moͤglich der Gnade alles
ſey, ſondern ſie kaͤme nach und nach in den
Stand, daß ſie ganze Stunden lang aus
ihrem Herzen beten koͤnnte. Sie bezeugte,
ſie ſey oͤfters (da ſie in dem ſehnlichen Su-
chen nach der Gnade JEſu geſtanden) ganze
Stunden lang auf ihren Knien gelegen, ſie
habe allemahl in dem Anfange gemeynet,
ſie werde nichts oder wenig mit Worten
dem Heylande vortragen, und ihn um ſeine
Erbarmung bitten koͤnnen, habe aber mei-
ſtens einen ſolchen Aufſchluß in ihrem Her-
zen gefuͤhlet, daß es ſie geduͤnket, es quelle
und flieſſe alles Stromsweiſe hervor, und
ſie koͤnne nie fertig werden, dem HErrn
JEſu ihr Herze auszulaͤhren.
O wie beſchaͤmt ſollten hierbey nicht vie-
le Menſchen ſeyn! die das Gebet entweder
gar unterlaſſen, oder die auf eine todte und
kalte Weiſe mit trockenen und entlehnten
Worten, dabey ſich oͤfters kein Buchſtabe
auf ihre Seele reimet, dem HErrn etwas
vorſchwaͤtzen, dabey aber ganze Tage und
Stunden, Mund und Herze der Welt und
der Suͤnde widmen. Erkennet arme See-
len!
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Zitationshilfe: | Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/209>, abgerufen am 16.02.2025. |