Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Händel, die seine Gliedmaßen siegreich durchzufechten außer Stande sind. Das Bewußtsein, den Willen seines Herzens nicht durchsetzen zu können, giebt seinem Wesen ein eigenthümliches Gepräge von Resignation, einen Ausdruck, der Jedermann verräth, daß ein etwaiger Anlauf seinerseits nicht gar schwer in einen Rückzug umzuwandeln ist. Gleichwohl kann er seine Ansprüche nicht ganz verbergen, und der böse Feind treibt ihn zuweilen an, vermessen damit hervorzutreten. -- Ein trefflicher Gegenstand offenbar für die heitere Laune, das Necken und das Hänseln, womit die gute alte Zeit, die vor Allem Spaß verstand, die Zeit abzukürzen pflegte.

Die Wirklichkeit hat stets für eine gute Zahl rühmlicher Ausnahmen gesorgt; aber die Ausnahme bestätigt nur die Regel, und so ist der Schneider als solcher für den Humor im Leben und in der Kunst ein Typus geworden und hat die Sprache mit charakterisirenden Ausdrücken bereichert. Wenn in einer Erzählung ein Schneider auftritt, so denken wir uns nothwendig eine Figur, die der oben gegebenen Schilderung entspricht. Hätte der Poet nun die Absicht, durch einen Vertreter dieses Handwerks gewaltige Thaten thun zu lassen, so müßte er seine Fähigkeit dazu ganz besonders nachweisen. Der Hufschmied kann ohne Weiteres ein halbes Dutzend Schneider in die Flucht schlagen; wenn aber ein Schneider ein halbes Dutzend Hufschmiede niederstreckte, so wäre das eine That, über deren

Händel, die seine Gliedmaßen siegreich durchzufechten außer Stande sind. Das Bewußtsein, den Willen seines Herzens nicht durchsetzen zu können, giebt seinem Wesen ein eigenthümliches Gepräge von Resignation, einen Ausdruck, der Jedermann verräth, daß ein etwaiger Anlauf seinerseits nicht gar schwer in einen Rückzug umzuwandeln ist. Gleichwohl kann er seine Ansprüche nicht ganz verbergen, und der böse Feind treibt ihn zuweilen an, vermessen damit hervorzutreten. — Ein trefflicher Gegenstand offenbar für die heitere Laune, das Necken und das Hänseln, womit die gute alte Zeit, die vor Allem Spaß verstand, die Zeit abzukürzen pflegte.

Die Wirklichkeit hat stets für eine gute Zahl rühmlicher Ausnahmen gesorgt; aber die Ausnahme bestätigt nur die Regel, und so ist der Schneider als solcher für den Humor im Leben und in der Kunst ein Typus geworden und hat die Sprache mit charakterisirenden Ausdrücken bereichert. Wenn in einer Erzählung ein Schneider auftritt, so denken wir uns nothwendig eine Figur, die der oben gegebenen Schilderung entspricht. Hätte der Poet nun die Absicht, durch einen Vertreter dieses Handwerks gewaltige Thaten thun zu lassen, so müßte er seine Fähigkeit dazu ganz besonders nachweisen. Der Hufschmied kann ohne Weiteres ein halbes Dutzend Schneider in die Flucht schlagen; wenn aber ein Schneider ein halbes Dutzend Hufschmiede niederstreckte, so wäre das eine That, über deren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0008"/>
Händel, die seine      Gliedmaßen siegreich durchzufechten außer Stande sind. Das Bewußtsein, den Willen seines      Herzens nicht durchsetzen zu können, giebt seinem Wesen ein eigenthümliches Gepräge von      Resignation, einen Ausdruck, der Jedermann verräth, daß ein etwaiger Anlauf seinerseits nicht      gar schwer in einen Rückzug umzuwandeln ist. Gleichwohl kann er seine Ansprüche nicht ganz      verbergen, und der böse Feind treibt ihn zuweilen an, vermessen damit hervorzutreten. &#x2014; Ein      trefflicher Gegenstand offenbar für die heitere Laune, das Necken und das Hänseln, womit die      gute alte Zeit, die vor Allem Spaß verstand, die Zeit abzukürzen pflegte.</p><lb/>
        <p>Die Wirklichkeit hat stets für eine gute Zahl rühmlicher Ausnahmen gesorgt; aber die Ausnahme      bestätigt nur die Regel, und so ist der Schneider als solcher für den Humor im Leben und in der      Kunst ein Typus geworden und hat die Sprache mit charakterisirenden Ausdrücken bereichert. Wenn      in einer Erzählung ein Schneider auftritt, so denken wir uns nothwendig eine Figur, die der      oben gegebenen Schilderung entspricht. Hätte der Poet nun die Absicht, durch einen Vertreter      dieses Handwerks gewaltige Thaten thun zu lassen, so müßte er seine Fähigkeit dazu ganz      besonders nachweisen. Der Hufschmied kann ohne Weiteres ein halbes Dutzend Schneider in die      Flucht schlagen; wenn aber ein Schneider ein halbes Dutzend Hufschmiede niederstreckte, so wäre      das eine That, über deren<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0008] Händel, die seine Gliedmaßen siegreich durchzufechten außer Stande sind. Das Bewußtsein, den Willen seines Herzens nicht durchsetzen zu können, giebt seinem Wesen ein eigenthümliches Gepräge von Resignation, einen Ausdruck, der Jedermann verräth, daß ein etwaiger Anlauf seinerseits nicht gar schwer in einen Rückzug umzuwandeln ist. Gleichwohl kann er seine Ansprüche nicht ganz verbergen, und der böse Feind treibt ihn zuweilen an, vermessen damit hervorzutreten. — Ein trefflicher Gegenstand offenbar für die heitere Laune, das Necken und das Hänseln, womit die gute alte Zeit, die vor Allem Spaß verstand, die Zeit abzukürzen pflegte. Die Wirklichkeit hat stets für eine gute Zahl rühmlicher Ausnahmen gesorgt; aber die Ausnahme bestätigt nur die Regel, und so ist der Schneider als solcher für den Humor im Leben und in der Kunst ein Typus geworden und hat die Sprache mit charakterisirenden Ausdrücken bereichert. Wenn in einer Erzählung ein Schneider auftritt, so denken wir uns nothwendig eine Figur, die der oben gegebenen Schilderung entspricht. Hätte der Poet nun die Absicht, durch einen Vertreter dieses Handwerks gewaltige Thaten thun zu lassen, so müßte er seine Fähigkeit dazu ganz besonders nachweisen. Der Hufschmied kann ohne Weiteres ein halbes Dutzend Schneider in die Flucht schlagen; wenn aber ein Schneider ein halbes Dutzend Hufschmiede niederstreckte, so wäre das eine That, über deren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/8
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/8>, abgerufen am 05.05.2024.