Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

Bild:
<< vorherige Seite

aus öffentlichen Staatskassen erhalten müsse. Umgekehrt erscheint
als die Vollendung der gesellschaftlichen Frage, daß der Unter-
schied eines Beamten und Nichtbeamten vielmehr auf die Weise
wegfalle, daß Keiner mehr vom Staate besoldet, sondern durch die
freien Genossenschaften der bürgerlichen Gesellschaft für seine Ar-
beit entsprechenden Lohn finde.

Wie aus der wissenschaftlichen und religiösen Freiheit, so
hatte sich aus der staatlichen, welche in der französischen Umwäl-
zung zum Durchbruch kam, eine neue Gemeinschaftslehre
entwickelt. Die französische Verfassung von 1793 hatte den
Grundsatz der Gleichheit aller Menschen an die Spitze der Ge-
sellschaft gestellt. Jndem diese Gleichheit aber nicht als die in-
haltsvolle Gleichheit gefaßt wurde, wonach jeder für den Werth
seiner Arbeit den entsprechenden Lohn fände, sondern als die leere
Gleichheit, entstand die Gleichheit der Schreckensherrschaft, wo
das Fallbeil alle Unterschiede aufhob. Babeuf's Lehre enthielt
folgende Hauptsätze: daß die Natur jedem Menschen ein gleiches
Recht auf den Genuß aller Güter gegeben; daß die Arbeiten
und die Genüsse in der Gesellschaft gemeinschaftlich sein müßten;
daß Niemand ohne Verbrechen sich die Güter des Bodens oder
des Gewerbfleißes ausschließlich habe aneignen können, da der
Boden Niemanden, die Früchte der Erde aber Allen gehörten;
daß es in einer wahren Gesellschaft weder Reiche noch Arme
geben dürfe, und daß der Zweck der Staatsumwälzung der sei,
die Ungleichheit zu vernichten und das gemeinsame Glück herzu-
stellen. Diese Lehre hatte den Gedanken des Gewerbfleißes noch
nicht hervorgehoben, erkennt die Landwirthschaft als den höchsten
Beruf des Menschen an, hebt jeden Unterschied der Menschen,
der sich auf Talent gründet, auf, und läßt keine Obrigkeit, als
die Theilungs-Obrigkeit bestehen, welche die allgemeinen Erzeug-
nisse des Volks sammelt und ihren Umlauf bestimmt. Hierbei
aber, fragt schon Aristoteles, was hilft es, die Güter gleich zu
machen, wenn die Begierden es nicht sind? Diese erzeugen in
jedem Augenblick die Ungleichheit wieder.

Wiewohl die Gemeinschaftslehrer der ersten französischen
Staatsumwälzung an den mit dem Directorium beginnenden Um-
sch wung der öffentlichen Meinung in der Wirklichkeit Schiffbruch

aus öffentlichen Staatskaſſen erhalten müſſe. Umgekehrt erſcheint
als die Vollendung der geſellſchaftlichen Frage, daß der Unter-
ſchied eines Beamten und Nichtbeamten vielmehr auf die Weiſe
wegfalle, daß Keiner mehr vom Staate beſoldet, ſondern durch die
freien Genoſſenſchaften der bürgerlichen Geſellſchaft für ſeine Ar-
beit entſprechenden Lohn finde.

Wie aus der wiſſenſchaftlichen und religiöſen Freiheit, ſo
hatte ſich aus der ſtaatlichen, welche in der franzöſiſchen Umwäl-
zung zum Durchbruch kam, eine neue Gemeinſchaftslehre
entwickelt. Die franzöſiſche Verfaſſung von 1793 hatte den
Grundſatz der Gleichheit aller Menſchen an die Spitze der Ge-
ſellſchaft geſtellt. Jndem dieſe Gleichheit aber nicht als die in-
haltsvolle Gleichheit gefaßt wurde, wonach jeder für den Werth
ſeiner Arbeit den entſprechenden Lohn fände, ſondern als die leere
Gleichheit, entſtand die Gleichheit der Schreckensherrſchaft, wo
das Fallbeil alle Unterſchiede aufhob. Babeuf’s Lehre enthielt
folgende Hauptſätze: daß die Natur jedem Menſchen ein gleiches
Recht auf den Genuß aller Güter gegeben; daß die Arbeiten
und die Genüſſe in der Geſellſchaft gemeinſchaftlich ſein müßten;
daß Niemand ohne Verbrechen ſich die Güter des Bodens oder
des Gewerbfleißes ausſchließlich habe aneignen können, da der
Boden Niemanden, die Früchte der Erde aber Allen gehörten;
daß es in einer wahren Geſellſchaft weder Reiche noch Arme
geben dürfe, und daß der Zweck der Staatsumwälzung der ſei,
die Ungleichheit zu vernichten und das gemeinſame Glück herzu-
ſtellen. Dieſe Lehre hatte den Gedanken des Gewerbfleißes noch
nicht hervorgehoben, erkennt die Landwirthſchaft als den höchſten
Beruf des Menſchen an, hebt jeden Unterſchied der Menſchen,
der ſich auf Talent gründet, auf, und läßt keine Obrigkeit, als
die Theilungs-Obrigkeit beſtehen, welche die allgemeinen Erzeug-
niſſe des Volks ſammelt und ihren Umlauf beſtimmt. Hierbei
aber, fragt ſchon Ariſtoteles, was hilft es, die Güter gleich zu
machen, wenn die Begierden es nicht ſind? Dieſe erzeugen in
jedem Augenblick die Ungleichheit wieder.

Wiewohl die Gemeinſchaftslehrer der erſten franzöſiſchen
Staatsumwälzung an den mit dem Directorium beginnenden Um-
ſch wung der öffentlichen Meinung in der Wirklichkeit Schiffbruch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0079" n="69"/>
aus öffentlichen Staatska&#x017F;&#x017F;en erhalten mü&#x017F;&#x017F;e. Umgekehrt er&#x017F;cheint<lb/>
als die Vollendung der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Frage, daß der Unter-<lb/>
&#x017F;chied eines Beamten und Nichtbeamten vielmehr auf die Wei&#x017F;e<lb/>
wegfalle, daß Keiner mehr vom Staate be&#x017F;oldet, &#x017F;ondern durch die<lb/>
freien Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften der bürgerlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft für &#x017F;eine Ar-<lb/>
beit ent&#x017F;prechenden Lohn finde.</p><lb/>
          <p>Wie aus der wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen und religiö&#x017F;en Freiheit, &#x017F;o<lb/>
hatte &#x017F;ich aus der &#x017F;taatlichen, welche in der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Umwäl-<lb/>
zung zum Durchbruch kam, eine neue <hi rendition="#g">Gemein&#x017F;chaftslehre</hi><lb/>
entwickelt. Die franzö&#x017F;i&#x017F;che Verfa&#x017F;&#x017F;ung von 1793 hatte den<lb/>
Grund&#x017F;atz der Gleichheit aller Men&#x017F;chen an die Spitze der Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft ge&#x017F;tellt. Jndem die&#x017F;e Gleichheit aber nicht als die in-<lb/>
haltsvolle Gleichheit gefaßt wurde, wonach jeder für den Werth<lb/>
&#x017F;einer Arbeit den ent&#x017F;prechenden Lohn fände, &#x017F;ondern als die leere<lb/>
Gleichheit, ent&#x017F;tand die Gleichheit der Schreckensherr&#x017F;chaft, wo<lb/>
das Fallbeil alle Unter&#x017F;chiede aufhob. <hi rendition="#g">Babeuf&#x2019;s</hi> Lehre enthielt<lb/>
folgende Haupt&#x017F;ätze: daß die Natur jedem Men&#x017F;chen ein gleiches<lb/>
Recht auf den Genuß aller Güter gegeben; daß die Arbeiten<lb/>
und die Genü&#x017F;&#x017F;e in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft gemein&#x017F;chaftlich &#x017F;ein müßten;<lb/>
daß Niemand ohne Verbrechen &#x017F;ich die Güter des Bodens oder<lb/>
des Gewerbfleißes aus&#x017F;chließlich habe aneignen können, da der<lb/>
Boden Niemanden, die Früchte der Erde aber Allen gehörten;<lb/>
daß es in einer wahren Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft weder Reiche noch Arme<lb/>
geben dürfe, und daß der Zweck der Staatsumwälzung der &#x017F;ei,<lb/>
die Ungleichheit zu vernichten und das gemein&#x017F;ame Glück herzu-<lb/>
&#x017F;tellen. Die&#x017F;e Lehre hatte den Gedanken des Gewerbfleißes noch<lb/>
nicht hervorgehoben, erkennt die Landwirth&#x017F;chaft als den höch&#x017F;ten<lb/>
Beruf des Men&#x017F;chen an, hebt jeden Unter&#x017F;chied der Men&#x017F;chen,<lb/>
der &#x017F;ich auf Talent gründet, auf, und läßt keine Obrigkeit, als<lb/>
die Theilungs-Obrigkeit be&#x017F;tehen, welche die allgemeinen Erzeug-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e des Volks &#x017F;ammelt und ihren Umlauf be&#x017F;timmt. Hierbei<lb/>
aber, fragt &#x017F;chon Ari&#x017F;toteles, was hilft es, die Güter gleich zu<lb/>
machen, wenn die Begierden es nicht &#x017F;ind? Die&#x017F;e erzeugen in<lb/>
jedem Augenblick die Ungleichheit wieder.</p><lb/>
          <p>Wiewohl die Gemein&#x017F;chaftslehrer der er&#x017F;ten franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Staatsumwälzung an den mit dem Directorium beginnenden Um-<lb/>
&#x017F;ch wung der öffentlichen Meinung in der Wirklichkeit Schiffbruch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0079] aus öffentlichen Staatskaſſen erhalten müſſe. Umgekehrt erſcheint als die Vollendung der geſellſchaftlichen Frage, daß der Unter- ſchied eines Beamten und Nichtbeamten vielmehr auf die Weiſe wegfalle, daß Keiner mehr vom Staate beſoldet, ſondern durch die freien Genoſſenſchaften der bürgerlichen Geſellſchaft für ſeine Ar- beit entſprechenden Lohn finde. Wie aus der wiſſenſchaftlichen und religiöſen Freiheit, ſo hatte ſich aus der ſtaatlichen, welche in der franzöſiſchen Umwäl- zung zum Durchbruch kam, eine neue Gemeinſchaftslehre entwickelt. Die franzöſiſche Verfaſſung von 1793 hatte den Grundſatz der Gleichheit aller Menſchen an die Spitze der Ge- ſellſchaft geſtellt. Jndem dieſe Gleichheit aber nicht als die in- haltsvolle Gleichheit gefaßt wurde, wonach jeder für den Werth ſeiner Arbeit den entſprechenden Lohn fände, ſondern als die leere Gleichheit, entſtand die Gleichheit der Schreckensherrſchaft, wo das Fallbeil alle Unterſchiede aufhob. Babeuf’s Lehre enthielt folgende Hauptſätze: daß die Natur jedem Menſchen ein gleiches Recht auf den Genuß aller Güter gegeben; daß die Arbeiten und die Genüſſe in der Geſellſchaft gemeinſchaftlich ſein müßten; daß Niemand ohne Verbrechen ſich die Güter des Bodens oder des Gewerbfleißes ausſchließlich habe aneignen können, da der Boden Niemanden, die Früchte der Erde aber Allen gehörten; daß es in einer wahren Geſellſchaft weder Reiche noch Arme geben dürfe, und daß der Zweck der Staatsumwälzung der ſei, die Ungleichheit zu vernichten und das gemeinſame Glück herzu- ſtellen. Dieſe Lehre hatte den Gedanken des Gewerbfleißes noch nicht hervorgehoben, erkennt die Landwirthſchaft als den höchſten Beruf des Menſchen an, hebt jeden Unterſchied der Menſchen, der ſich auf Talent gründet, auf, und läßt keine Obrigkeit, als die Theilungs-Obrigkeit beſtehen, welche die allgemeinen Erzeug- niſſe des Volks ſammelt und ihren Umlauf beſtimmt. Hierbei aber, fragt ſchon Ariſtoteles, was hilft es, die Güter gleich zu machen, wenn die Begierden es nicht ſind? Dieſe erzeugen in jedem Augenblick die Ungleichheit wieder. Wiewohl die Gemeinſchaftslehrer der erſten franzöſiſchen Staatsumwälzung an den mit dem Directorium beginnenden Um- ſch wung der öffentlichen Meinung in der Wirklichkeit Schiffbruch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/79
Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/79>, abgerufen am 17.05.2024.